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Idee: Bruno Schlatter, Ausführung: Freshbreeze, im Rahmen des Public Domain 2014

Das Hya-Hya-Mädchen

Hanns Heinz Ewers

1. Kapitel

Was er da niederschrieb, hatte ihm seine Pflegerin erzählt. Soeur Victorine hieß sie – aber Dr. Bonhommet, der alte, augenzwinkernde Arzt, nannte sie nur Dariolette. Das verstand sie nicht, und kein Mensch verstand es in St. Maria, noch in allen fünf Landen Guayanas. Die Wahrheit zu sagen: Wer hätte es heute verstanden drüben in Europa und wer selbst in Paris?
Der Deutsche, den sie pflegte, hörte den hübschen Namen: Dariolette. Das klang in seinen Fieberträumen – leicht, schmeichelnd, wie Vogeltrillern –, Dariolette. Dann wußte er: Er kannte es wohl, dieses Wort. Nicht gehört hatte er es, nein, aber doch gesehn irgendwo – Dariolette. Wo nur?
Immer klang es um ihn herum, durch lange Wochen ums Krankenbett, immer sang es in halbwachem Schlafe – Dariolette. Er murmelte es mit trockenen Krankenlippen, hörte die Blätter draußen rascheln, fern vom Fenster her – Dariolette. Dann, einmal, als Dr. Bonhommet ihm den Puls fühlte, flüsterte er das lachende Wort.
Da zwinkerte der alte Arzt, lächelte fast. Und in diesem Augenblick wußte der Deutsche, woher er den Klang hatte: Dariolette; es war, als ob ihm der Alte den Staub im Hirne weggeblasen habe. Den Staub von dem Schubfach seines Gedächtnisses.
»Amadis von Gallia« – der weltberühmte Roman, den so begeistert einst Don Quijote las. Und den er selbst las, weil Cervantes von ihm sprach, und weil ein deutscher Student doch so gründlich sein und alles selbst lesen muß, alles! So deutlich stand das nun wieder vor ihm; er sah sich in der Bibliothek sitzen, den alten Schweinslederband in den Händen. Sah genau die Seite, von der ihn zum ersten Male der Name anlachte: Dariolette.
Die war der Königin Zofe, ihre Freundin und Vertraute; war eine, die sich trefflich schickte, Gelegenheiten zu machen. So eine war Dariolette.
Und so nannte Dr. Bonhommet nun die Schwester Victorine. Groß war sie und schlank, blauäugig und blankzähnig – er dachte immer, daß sie rotblondes Haar haben müsse unter der weißgestärkten Haube. Sehr bleich war sie, wie alle Krankenschwestern. Und war schön, gewiß war sie schön trotz ihrer vierzig Jahre. Sanft auch und gut; still war ihre Frömmigkeit und nie aufdringlich.
Die – und Dariolette?


Er schrieb das alles auf, als er auf dem Dampfer saß, der ihn von Cayenne nach Paramaribo bringen sollte, nach Georgetown und dann nach Trinidad. Schrieb auf, was Soeur Victorine erzählt hatte und das, was der alte Hospitalarzt, Dr. Bonhommet, sagte, der immer so mit den Augenlidern zwinkerte. Der hatte es wieder von Gus Martens gehört.
Also Gus, ja, das war sein Freund, mit dem er die Fahrt gemacht hatte in die Berge. Der mußte dann fort, konnte nicht warten in St. Maria, bis er gesund sein würde, vielleicht in Monaten. Aber Gus hatte dem Arzt Bericht erstattet über alles, was da geschehn war. Und Dr. Bonhommet hatte es ihm wiedererzählt, so gut er es wußte. Das hatte dann Schwester Victorine ergänzt, die einiges miterlebt hatte. Und endlich fiel ihm, nach und nach, manches selbst wieder ein; Schleier hoben sich von allzu Verwischtem. Denn er war es ja, er, dem es geschehn war; und was erlebt worden war, hatte er selbst erlebt.
Unendlich köstlich war diese Fahrt über blaueste See. So still, so glatt, so alle Nerven leise küssend. Dann: dieses langsame Gesundwerden. Dieses Auferstehn vom monatelangen Tode, dieses Einatmen neuer Kräfte durch alle Minuten des Tages. So mag sich der Schmetterling fühlen, der aus der toten Puppenhülle schlüpft, nun am Blatte hängt und langsam, langsam die schlaffen Flügeln anfüllt mit warmer Sommerluft.
Auf Deck lag er in seinem Liegestuhl, lächelte, schrieb das alles auf. Diese Geschichte von ihm selbst, der tot war. Und doch nun lebte. Wieder hinausreiste. In ein neues Leben, ins Glück vielleicht.
So war es: Er war sehr krank gewesen, und jemand rettete ihn im letzten Augenblick. Das war eigentlich alles. Nur – nicht sein Freund rettete ihn, Gus Martens. Auch nicht Dr. Bonhommet, noch die Schwester Victorine. Die nicht – eine andre war es.
Sie fuhren aus, um Gold zu suchen, »El Dorado« zu finden hinter den Bergwäldern. Überall hört man solche Geschichten an der Nordküste – von Venezuela hin bis nach Brasilien, seit Jahrhunderten schon. Das schlummert ein, das lebt wieder auf, verwirrt die Köpfe und jagt sie in die Berge hinein.
Keiner aber wußte mehr davon als Gus Martens, keiner kannte besser die fünf Guayanas. Achtmal schon war er ausgezogen, den See Parima zu finden, den See El Dorados, des vergoldeten Häuptlings. Er traf Gus Martens in dem Loch San Rafael, im venezolanischen Guayana. Gus war zurück, aus der Sierra von Pacaraima: Dort war er nicht, der große Goldsee mit dem Schatze des Goldkaziken. Aber Gus wußte nun, wo er war. Jeden Abend erzählte er davon, während er die Tage zubrachte, um mühselig die neue Fahrt vorzubereiten, Maultiere und Proviant zu kaufen, indianische Knechte anzuwerben. Jeden Abend erzählte Gus Martens – hatte ihn endlich soweit, daß er einschlug, Partner wurde auf halb und halb, Kosten und Gewinn.
Dann zogen sie nach Südosten.
Spanier und Portugiesen, Deutsche, Holländer und Franzosen hatten gesucht durch die Jahrhunderte nun. Jetzt waren ein paar Yankees unterwegs. Gus hatte ihnen Märchen vorerzählt, so daß sie nun am oberen Orinoco suchten. Und dann die von Europäern importierten Menschen, Ostinder und Chinesen, Laskaren, Malaien und Neger aller Arten, entlaufene Sklaven, die sich im Busch umhertrieben. Ganz zu schweigen von den Indianern und all dem Mischvolk.
Immer war jemand auf der Goldjagd – schwarze Glücksritter und gelbe, braune, rote und weiße. Gus lachte – sie waren alle auf falscher Fährte, alle. Er wußte es, denn er war all diesen Fährten gefolgt. Ganz in die Irre lief – im achtzehnten Jahrhundert – der Spanier Santos, der, zweihundert Jahre später, den Spuren des Lorenz Keimis folgte. Die Ritter Georg von Speyer und Philipp von Hutten zogen ins Blaue hinein, wie Sir Walter Raleigh tat; und nur einer, Nikolas Horsmann, hatte den guten Wind in der Nase. Beinahe – beinahe fand er den Wundersee Parima.
Dann aber schüttelte der große Forscher Schomburgk viel Wasser in den berauschenden Wein, der allen goldtrunkenen Glücksrittern die phantastischen Köpfe umnebelte. Der Parimasee des Goldkönigs, erklärte er, das ist nichts andres als der Amucusee in Britisch-Guayana, am Macaparangebirge – und Gold ist schon gar nicht da! Und Schomburgk ist der Erforscher Guayanas und ist die ganz, ganz große Autorität. Exakte Wissenschaft – da gibt es halt nichts! Gus Martens lachte laut, wenn er das sagte.
Aber still und träumerisch wurde seine Stimme, wenn er seine Gedanken auseinandersetzte. Nie sei eine Sage aus nichts gewachsen, niemals. Waren die Schätze der Inkas nicht greifbare Wirklichkeit? Er, Gus Martens, würde den Goldsee finden und an seinen Ufern die Stadt Manoa del Dorado – an den Quellen des Oyapoc in den stillen Bergen der Tumac-Humac.
Durch Sierren ritten sie und durch Savannen. Kreuzten immer neue Flüsse, sahen immer neue, immer mehr Wasserfälle. Gus Martens kannte die Namen und nannte sie ihm. Kauderwelschte mit den Indianerstämmen stets in andrer Sprache und dazwischen in Spanisch, Englisch, Holländisch.
Weiter zogen sie gen Südosten, doch zu den Tumac-Humac kamen sie nicht. Vielleicht, jetzt, während er nach Trinidad fuhr, mochte Gus Martens dort sein, an den Quellen des Oyapoc, auf seiner neunten Ausfahrt zum Goldsee.
Das machte: der Deutsche wurde krank. Ganz plötzlich, so über Nacht. Das Fieber war nicht schwer, aber das schlimme war, daß ihm jede Speise zuwider war. Er vermochte nichts über die Lippen zu bringen, nicht einmal Wasser. Zwang er sich gewaltsam, doch etwas zu schlucken, so revoltierte der Magen, und er spie das Genossene nach wenigen Minuten wieder aus. Gus hatte alle möglichen indianischen Namen für die Krankheit, behauptete auch, daß schon vor viereinhalbhundert Jahren Ritter Philipp von Hutten an ihr zugrunde gegangen sei – verhungert und verdurstet.
Ein Verlangen nur hatte der Kranke – Milch. Doch wenn ihm der Freund eine Büchse kondensierter Milch aufmachte, wurde ihm von dem Geruch allein schon seekrank. Nein, nein, frische Milch mußte es sein. Er hing weiter auf seinem Maultier, sah nichts von allem ringsum, hörte nichts mehr von dem, was Gus Martens erzählte. Nur von fern das Rauschen der Wasserfälle. Und im Hirne rauschte der Wunsch: Milch, frische Milch.
Einmal bekam Gus eine Ziege aus einem Indianerdorf – er brachte nicht einen Tropfen über die Lippen. Ein andermal erhielten sie warme Stutenmilch; er zwang sich, einen Becher herunterzugießen. Atmete schwer, spie alles wieder aus; wand sich durch zehn Minuten in Krämpfen.
Nein, das war es nicht, was er wollte. Kuhmilch vielleicht. Aber wo sollten sie hier eine Kuh auftreiben? Dann dachte er, die Milch vom Kuhbaum sei das, wonach er verlangte. Noch vor wenigen Wochen hatte er davon getrunken. Wenn nur die Troßknechte einen Kuhbaum finden wollten.
Sie fanden welche, schlugen mit Messern durch die Rinde, um den milchigen Saft zu gewinnen. Damals war er schon so schwach, daß er sich nicht mehr auf seinem Reittier zu halten vermochte; die Indianer hatten aus Zweigen eine Tragbahre gemacht, darauf trugen sie ihn. Sie brachten ihm die Milch, richteten ihn auf, setzten ihm die Kalebasse an die Lippen.
Er trank, trank. Dann brach er, im Augenblick. Nein, nein, das war nicht die Milch, nach der er verlangte, nicht die köstliche Milch des Kuhbaumes, die allein ihn heilen mochte!
Später, in dem kleinen Bungalow in St. Maria, das man Krankenhaus nannte, hatte ihm Dr. Bonhommet einen schönen Vortrag gehalten. Es sei da ein Unterschied, sagte er, der erkläre alles. Der mächtige Kuhbaum nämlich, von dem er in Venezuela getrunken habe, Palo de vacca von den Indianern und Galactodendron von den Gelehrten genannt, zu der Familie der Urticaceen gehörig – der wachse gar nicht im französischen Guayana. Dafür wachse hier ein andrer Baum, kleiner und mehr strauchartig – der Milchbaum, den die Indianer Hya-Hya, die Wissenschaftler aber Tabernamontane benennen – die Bergkneipe, auch ein hübscher Name. Dieser Milchbaum nun, aus dem Contortusgeschlecht, sei ganz und gar nicht mit dem Kuhbaum verwandt. Seine Milch aber schmecke wirklich wie Kuhmilch, und auch der Käse, den man aus ihm gewinne, sei durchaus dem Kuhkäse ähnlich. Die Milch des venezolanischen Kuhbaumes schmecke gar nicht wie Kuhmilch, sie sei süßer und blauer, schmecke wie – nun, wie eine andre Milch.
Und der kleine Dr. Bonhommet zwinkerte mit den runden Äuglein, und ein rasches, gutmütiges Grinsen huschte über seine Lippen.
Sehr viel erinnerte er nicht mehr von diesem Tage an, konnte auch nicht recht feststellen, ob das, was er nun niederschrieb, ihm aus eigner Erinnerung bekannt war oder aus den Erzählungen des Arztes oder der Krankenschwester.
Gus Martens brach die Fahrt ab, ob er gleich dicht am Ziele zu sein glaubte. Aber den Mann zu retten – den er doch vor ein paar Monaten erst getroffen hatte, und den er vermutlich nie wiedersehn würde –, das schien ihm dennoch nun wichtiger als alle Hoffnung auf die Schätze des Goldsees. Er ritt voraus, so schnell ihn sein Tier tragen konnte, immer nach Norden, um so bald wie möglich Hilfe zu holen. Und langsam, langsam folgten die Indianer mit der Tragbahre.
Aus diesen Tagen wußte der Deutsche nichts mehr. Er konnte nicht einmal sagen, ob er Durst empfand oder Hunger. Nur ein Rauschen der Wasserfälle klang in seinen Ohren, und in seiner Seele lebte die stille Sehnsucht nach Milch.
Dann, irgendwo, kam Gus Martens zurück, und mit ihm kam Schwester Victorine. Sie brachten frische Treiber und Maultiere, brachten eine richtige Krankenbahre, die von zwei Maultieren getragen wurde. So weich, so leicht schaukelnd lag man da.
Er erinnerte sich der sanften Schwester, gleich vom ersten Tage an; das Adagio ihrer Stimme tat ihm wohl. Was in ihm noch vorhanden war von letztem, schwachem Willen, das riß er zusammen, gab sich Mühe, wieder und wieder, alles zu schlucken, was sie ihm reichte. Aber es ging nicht, ging nicht. Nichts vermochte er bei sich zu behalten.
Mit dem Blick bat er sie um Verzeihung. Sprechen konnte er nicht mehr; selten nur hauchten die trockenen Lippen: »Milch! Milch!« Und der Schwester tropften große Tränen aus den blauen Augen.
Manchmal war er auf Minuten ganz klar. Dann hörte er Martens sagen: »Wir werden ihn nie lebend nach St. Maria bringen.«
Die Schwester sagte: »Wir müssen ihn hinbringen!«
»Und wenn er hinkommt«, fragte Martens, »was dann? Dann wird er eben dort sterben! Er kann nichts trinken, nichts essen ...«
»Wir müssen etwas finden für ihn«, sagte die Schwester.
»Milch«, flüsterte der Deutsche, »Milch.«
Gus Martens ritt wieder voraus, Dr. Bonhommet zu holen; die Schwester leitete den Zug. Sie sprach zu dem Kranken, strich ihm mit seidenem Tuch den Schweiß von der Stirn. Immer weiter ging es nach Norden, ohne Unterbrechung wie ihn deuchte.
Einmal machten sie doch eine Rast. Er hörte, wie die Indianer von einem Dorfe sprachen, das da liegen sollte; sah, wie die Schwester Victorine fortritt. Mit ihr zogen die Knechte. Seine Bahre hatten sie hingestellt, nur ein alter Indianer war bei ihm zurückgeblieben.
So lag er und wartete. Fast wach war er; das Ungewohnte des Nichtschaukelns hielt ihn wach. Stunden vielleicht lag er so, wer weiß das? Dann wurde der Alte unruhig, bat ihn, gehn zu dürfen, nach den andern sehn. Da nickte er.
Lag wieder, ganz allein nun. Schlummerte, wachte wieder, wartete. Dann hörte er Stimmen.
Eine – das war der Schwester Stimme. Hastig sprach sie, aufgeregt, eindringlich, gar nicht, wie sonst ihre Art war. Und eine andre Frauenstimme, hell, fast ängstlich. Er verstand kein Wort – indianisch sprachen die beiden.
Dann war es still. Aber leise Schritte kamen heran, zögernd und langsam. Nun schlug er die Augen auf eine Indianerin stand dicht an seiner Bahre. Große schwarze Augen sah er, schwarze Zöpfe, die nach vorn über die Schultern hingen. Zwei Reihen Zähne – nie hatte er so weiße gesehn. Sie beugte sich über ihn, kniete nieder. Sie sah ihn an, einen Augenblick nur, ernst, fast erschreckt. Dann reckte sich die braune Hand, rasch riß sie das Gewand von der Schulter. Und die starken Brüste hoben sich, senkten sich in hastigem Atem.
Langsam bog sich ihr Leib, über sein Gesicht schob sich die nackte Brust. Seinen Kopf drängte sie sanft zu sich hin, wie eines Kindleins.
Da schloß er die Augen, trank, trank.
Das alles hatte er vergessen, als er im Hospital lag; erinnerte sich erst daran, als ihm der Arzt davon sprach. »Das war die Rettung«, sagte Dr. Bonhommet. »Nie wären Sie lebend nach St. Maria gekommen. Ein kluger Gedanke war es – bedanken Sie sich bei Dariolette.«
Aber Schwester Victorine lehnte das ab – sprach nicht gern von diesem Teil der Geschichte.
Als er sich verabschiedete von Dr. Bonhommet, fragte er nach der Indianerin. Gewiß verdankte er dem Arzt sein Leben, ihm und der Schwester, auch seinem Partner, Gus Martens. Aber nicht weniger doch der Indianerin.
Wie sie heiße, wo sie wohne und wie er sich ihr erkenntlich zeigen könne?
Das sei nicht gut möglich, meinte Dr. Bonhommet. Tot sei sie.
»Tot?« fragte er. »Tot?«
Der alte Arzt zuckte die Achseln.
»Sie haben seltsame Sitten und Anschauungen, diese Buschindianer«, sagte er. »Für wenig Geld hätten Sie von ihrem Manne das Weib kaufen können – und seine Schwester dazu. Hätten es behalten dürfen, solange es Ihnen gefiel, um ein paar Silberstücke im Monat. Dann, wenn Sie sie zurückschickten, mit ein paar kleinen Geschenken vielleicht, hätte ihr Mann sie hoch in Ehren gehalten, kein Härchen ihr gekrümmt. So aber – als er zurückkam zum Dorf, hörte, was geschehn war, prügelte er sie tot.«
»Das ist ja Wahnsinn!« rief der Deutsche. »Sagen Sie, Doktor, kannte Schwester Victorine die haarsträubenden Sitten dieses Indianerstammes?«
Dr. Bonhommet zog die Schultern hoch, ließ sie nach einer Weile wieder fallen.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er; »es geht mich auch nichts an. Das aber ist ganz gewiß: als die Indianerin Ihr Leben rettete – wußte sie recht gut, was ihr bevorstand.«

Langsam fuhr er hinauf nach Trinidad über blaueste See. Schrieb dies nieder, lang hingestreckt im Deckstuhl. Sog die warme Luft ein mit allen Poren, wie ein Falter, der aus dem Totenschlaf der Puppe zu neuem Leben erwacht. Träumte still in die Sternennacht. Zwei Frauen traf er im Lande Guayana – zwei Frauen, die er nie wiedersehn würde. Soeur Victorine war die eine, die der Arzt von St. Maria Dariolette nannte. Die andre, die nun tot war, war eine Indianerin – nicht einmal ihren Namen kannte er.
Dennoch, dennoch, etwas war da in den Seelen dieser Frauen, das sie ihm verband. Wenn er nur wüßte, was das wohl war. – Still träumte er in die Sternennacht. Sah des Südens Kreuz und die breite, leuchtende Milchstraße, die durch alle Himmel zum Paradiese führt.


2. Kapitel

Höchste Liebe

Ich glaube, es sei kein Mensch auf der Welt,
der nicht seinen Sparren habe;
und ich kann bei meinem Birn wohl merken,
wann andere zeitig sind.
H. J. C. von Grimmelshausen,
Simpl. Simplicissimus

Drei Jahre strahlte Hagen Dierks als großer Stern am Musikhimmel auf beiden Seiten des Atlantiks. Drei Jahre lang zitterten die Auerschüler, die Elman, Heifetz, Rosen und Seidel; und Fritz Kreisler selbst fühlte an heißen Schläfen die kühle Luft dieser Adlerschwingen. Nur: er lächelte. Sagte: Einer war vor mir, und einer wird nach mir kommen. Das ist er: Dierks.
Er war da – drei Jahre lang –, und dann verschwand er.
Nicht daß er, ein blutjunger Geiger wie fast alle die andern, vom Konservatorium weg, im Sturm das Publikum nahm und die Konzertsäle füllte. Als er das tat, war er bereits fünfunddreißig Jahre alt – und war achtunddreißig, als er abtrat.
Öffentlich gespielt hatte er freilich zum ersten Male mit achtzehn Jahren.
Damals war es gewiß kein Mißerfolg – und doch auch kein ganzer Erfolg. Er spielte dann überall herum durch lange Jahre, blieb aber stets in der zweiten Reihe.
Dann kam der Krieg, und er war Soldat. Nach dem Kriege spielte er wieder. Aber es war grade, wie es vorher gewesen war: Aus der zweiten Klasse kam er nicht heraus.
Der reiche, alte Herr, der ihn hatte ausbilden lassen, sammelte alle Besprechungen ernster Kritiker. Es war erstaunlich, wie sich diese Herrn widersprachen – ob sie gleich in einem sich stets gleichblieben: daß nämlich dem Künstler irgend etwas fehle. Nur was dies eine grade sei – darüber sagten die Kritiker stets ein anderes. Bei dem einen Konzert wurde seine fabelhafte Technik gelobt, sein musikalisches Empfinden und sein künstlerisches Temperament – bedauert wurde nur der Mangel einer starken Persönlichkeit. An einem andern Abend wurde gerade diese außerordentlich hochgestellt – dagegen ihm ein gewisser Mangel an Technik vorgeworfen. Wieder einmal sprach man ihm das Temperament ab oder auch ein tieferes musikalisches Gefühl – während zugleich wieder alles andere in den Himmel erhoben wurde.
Der alte Herr, selbst leidenschaftlicher Musikfreund und großer Kenner, mußte zugeben, daß die Kritiker recht hatten – alle. Die so überaus gegensätzlichen Besprechungen der Leistungen seines Schützlings hatten ihn so verwirrt, daß er eines Tages beschloß, sie nachzuprüfen, da war er ein ganzes Jahr lang mit dem jungen Künstler herumgereist und hatte jedes einzelne seiner Konzerte besucht. Es war wirklich so, wie die Zeitungen schrieben: jedesmal fehlte etwas. Bald dieses und bald jenes – aber einen vollen, großen, reinen Kunstgenuß gab auch ihm nicht eines der Konzerte. Er wußte gut: sein Schützling, an dessen Kunst er dennoch glaubte, hatte alles zur Verfügung und alles in so überreichem Maße, wie nur einer in hundert Jahren. Trotzdem: Nie konnte er das vereinigen; stets war bald dieses, bald jenes, unkontrollierbar ihm wie dem Künstler selbst – mangelhaft. Er glaubte, daß mit den Jahren das von selber kommen würde, aber die Jahre vergingen, und es wurde eher schlechter als besser. Geradezu erschreckend aber trat dieser wechselnde Mangel in den Jahren nach dem Krieg in Erscheinung. Dann, an einem Oktoberabend in Wien, hatte Hagen Dierks plötzlich einen ungeheuren Erfolg – er gab große, unantastbare, restlose Kunst. Und das tat er von nun an an jedem Abend, wo immer er spielte. Man rief ihn ins Ausland, erst nach Spanien, Holland und den skandinavischen Ländern. Er war dann der erste deutsche Künstler, der wieder nach London gebeten wurde, und gleich darauf mit nicht dagewesenem Honorar nach Amerika. Jedermann weiß das, und jeder, der ein wenig nur die Musik liebt, hat ihn gehört in jenen Jahren. Der Künstler war unermüdlich in dieser Zeit; nur zwei Monate im Jahre verbrachte er auf seinem kleinen Landgut am Niederrhein – durch zehn Monate spielte er jeden Abend vor Tausenden.
Dann starb er. Ganz unromantisch und prosaisch: Er erkältete sich, überhitzt, nach einem Konzert in dem zugigen Künstlerzimmer; bekam Lungenentzündung; war tot nach vier Tagen.
Das ist das, was jeder weiß von Hagen Dierks. Mehr aber wußte keiner.

Man vergaß ihn nicht, o nein. Niemand, der ihn hörte in diesen drei Jahren, wird ihn vergessen können sein Leben lang. Wenn aber all diese Menschen tot sind, wird er noch weiterleben in Büchern von Musikhistorikern, die sich Mühe geben werden, das Phänomen zu erfassen, das Hagen Dierks hieß – diesen seltenen Meteor, den leuchtendsten seit Paganinis Tagen.
Einer hat das bereits getan. Herr W. T. Reininghaus, eben jener alte reiche Herr, der ihn einst ausbilden ließ. Er kannte ihn besser als ein anderer Mensch und versuchte schon bei Lebzeiten seines Schützlings das Rätsel zu ergründen, obwohl dieser nie ein Wort darüber sprach, auch zu ihm nicht. Der alte Herr glaubte, das Geheimnis gefunden zu haben; er sprach auch gelegentlich davon zu einigen Freunden. Die hörten still zu und lächelten – sie glaubten die Geschichte nicht recht. Wohl die Tatsachen – denn die hatte der alte Herr peinlich zusammengetragen – aber nicht die inneren Zusammenhänge, nicht die Folgerungen, die er daraus zog.
Der alte Herr zweifelte manchmal selber daran; so brachte er seine Geschichte nie zu Papier. Und darum werden Musikhistoriker noch manchmal versuchen, das Rätsel des Geigenspielers Hagen Dierks zu ergründen; dieses musikalischen Wundermannes, der mit achtzehn Jahren reif war, dann durch vierzehn Jahre – wenn man die Kriegsjahre abrechnet – sich nicht entfalten konnte, stets einen Mangel zeigte – und immer einen andern. Und der endlich ohne jeden sichtbaren Grund, von heute auf morgen die denkbar höchste Vollendung zeigte und die reinste Kunst in Jahrhunderten.
Immerhin mag die Geschichte des alten Herrn und väterlichen Freundes des Künstlers späteren Gelehrten manche Anhaltspunkte geben, die sie benutzen mögen, wie sie wollen.

Hier ist sie:
An dem Abend seines ersten öffentlichen Auftretens begleitete Herr Reininghaus seinen Schützling zum Konzerthaus. Hagen Dierks, damals achtzehn Jahre und zwei Monate alt, war seiner Sache sehr gewiß. Er hatte jene unendlich glückliche Selbstsicherheit, die so viele junge Künstler in den ersten Jahren ihres Auftretens auszeichnet.
Als sie vor dem Konzerthaus die Straße kreuzten, sahen sie ein altes Hufeisen auf dem Pflaster liegen. Herrn Reininghaus fiel die Anekdote ein, die man von dem Neger Johnson erzählte, als er mit seinem Manager zu dem berühmten Wettkampfe in Rheno ging, bei dem er den Weltmeister Jeffries niederschlug. So lachte Herr Reininghaus und sprach wie Johnsons Manager: »Heb's auf! Tu's in deinen Handschuh – vielleicht bringt's Glück!«
Aber der junge Geiger gab dem Hufeisen einen verächtlichen Fußtritt.
Dann, im Künstlerzimmer, zwei Minuten vor dem Auftreten, sagte er plötzlich nachdenklich: »Wer weiß, vielleicht hätte ich das Hufeisen doch aufnehmen sollen!«
Dieser Abend war gewiß ein Erfolg, aber nicht ein so gewaltiger, wie die beiden sich geträumt hatten.

Es wurde dann in der Folge eine Manie bei dem jungen Geigenspieler, daß er jeden Talisman, den er nur auftreiben konnte, in der Tasche herumtrug. Er hatte rostige Nägel, vierblättrige Kleeblätter, kleine Belemniten; trug goldene Kreuzchen, Georgstaler, Stücke von Jade, Marienbildchen und kleine Holzbuddhas wovon er nur immer hörte, das probierte er aus. Und warf es weg nach jedem Konzert. Er brauchte nicht die Kritiken am anderen Morgen zu lesen: Er wußte gut, was ihm gefehlt hatte an diesem Abend oder jenem. Und den kleinen Gott, den er vor ein paar Tagen eingesetzt, stieß er entrüstet wieder herunter von seinem Thron.
Nicht, daß er an die geheimnisvolle Hilfe irgendeines Fetischdinges recht geglaubt hätte. Er mißtraute jedem einzelnen gründlich. Was er glaubte, war nur das: Vielleicht gibt es doch etwas, das mir helfen kann. Vielleicht ...
Im Grunde war das nichts als die Elastizität der Jugend. War die ewige Hoffnung, die sich nicht unterkriegen lassen wollte. Er war – künstlerisch irgendwie krank, und er tat alles, diese Krankheit zu erkennen. Er arbeitete in diesen ersten Jahren fieberhaft und nach jeder Richtung hin. Seine Technik suchte er immer mehr zu vervollkommnen. Er studierte dazu auf allen Gebieten, suchte sich zu bilden, wo es nur ging, um seine Auffassung zu erweitern. Sehr bescheiden, gut erzogen, hübsch und von natürlicher Liebenswürdigkeit, hatte er das Glück, daß alle anerkannten Musikgrößen, die er kennenlernte, ihm zugetan waren, ihm seinen Weg zu ebnen versuchten, ihm gern allerlei Winke, Ratschläge, auch Unterricht gaben. Er tat, was er nur konnte, befolgte jeden Rat, kurierte an sich herum mit den abenteuerlichsten Mitteln. Aber es nutzte nie etwas. Was eigentlich das war, das ihm fehlte, das begriff keiner – und er selbst am wenigsten.
Körperlich krank war er nie. Trotzdem pflegte er seinen Leib nach jeder Richtung, trieb jeden Sport, der nicht seine Hand in zu große Gefahr bringen konnte; besuchte in den Ferien ein Sanatorium nach dem andern. Versuchte die abenteuerlichsten Kuren, um dem Fehler, den er zeitweise in den Nerven vermutete, beizukommen. Aber nichts half, gar nichts.
Die Jahre gingen, und nichts kam. Einmal – und dann noch einmal – dachte er, eine Frau würde ihm helfen können. Aber die »große Liebe« half ihm so wenig wie ein rostiger Nagel oder eine Mücke in Bernstein.
»Wissen Sie«, erzählte Herr Reininghaus, »vielleicht war's, weil er auch da mißtrauisch war vom ersten Augenblick an. Er glaubte nicht recht an die heilige Macht der Liebe! All seine Geschichten mit Frauen gingen rasch zu Ende – und ich denke, daß er sie fortwarf wie die Goldkreuzehen und Glückspfennige gleich nach dem Konzert.«
Langsam erlahmte er dann. Nicht daß seine künstlerischen Darbietungen schlechter wurden – sie blieben interessant genug. Blieben das, was sie stets waren: Elfzwölftelerfolg! Aber nur das letzte Zwölftel zählt – was nützt die schönste Himmelsleiter, wenn die obersten Sprossen fehlen? Hagen Dierks erlahmte in seiner Hoffnung. Nie erlosch diese ganz, flackerte immer wieder auf – aber nur kurz noch und in immer längeren Zwischenräumen. Er fühlte in langen Monaten, daß er das Höchste nie würde erreichen können – und nur das schien ihm lebenswert.
So kam es, daß ihm der Krieg wie eine Art Rettung vorkam, die ihn mit Gewalt aus einem verfehlten Leben herausriß. Er trat sofort als Freiwilliger ein, zeichnete sich aus, wurde bald Offizier. Oft verwundet, kam er immer wieder zurück an die Front. Dann meldete er sich zum Fliegerkorps, wurde ausgebildet und galt bald als einer der fähigsten und waghalsigsten Kampfflieger. Dazu – das ist bemerkenswert – als der einzige Flieger hüben und drüben, der nie irgendeinen Talisman mitnahm. Es war, als ob er alle diese Dinge, die Glück bringen sollten, auf den Kehricht warf, als er den Frack des Virtuosen mit dem Soldatenrock vertauschte. Bisher stak immer so ein Zauber in seiner Tasche – nun nichts mehr. Alle die Kinkerlitzchen, die ihm schöne Frauen zur Front schickten, verschenkte er sofort. Oft genug sagte er dann dem Kameraden: »Vielleicht nützt es, ich weiß nicht. Jedenfalls – versuch's!« Gefragt, warum er denn selbst nichts versuchen wollte, zuckte er die Achseln. »Nein!« antwortete er. Und sonst nichts.
Doch geschah das keineswegs, weil er nun plötzlich über allen Aberglauben hoch erhaben sich gefühlt hätte. An die Möglichkeit einer geheimnisvollen Hilfe durch diesen oder jenen Talisman glaubte er immer noch – genausoviel oder auch genausowenig, wie er stets daran geglaubt hatte. Es war vielmehr so, daß es ihm nun nicht mehr darum stand, solchen Zauberschwindel auszuprobieren. Früher – ja, da ging es um die Kunst! Aber jetzt ging es ja nur um sein Leben.
Immer lieber wurde ihm sein neuer Beruf. Schon im dritten Kriegsjahr hatte er seinem alten Freunde seinen Entschluß mitgeteilt, auch nach Friedensschluß Flieger zu bleiben und nicht mehr auf das Konzertpodium zurückzukehren. So sehr war ihm der Gedanke an ein Wiederauftreten zuwider geworden, daß er es hartnäckig ablehnte, bei Konzerten für das Rote Kreuz oder andere wohltätige Zwecke mitzuwirken.
Dennoch wurde er seiner Fiedel nicht untreu. Sie begleitete ihn an alle Fronten; er spielte oft genug, sowie ihn die Lust dazu faßte. Oft vor ein paar Kameraden, meist aber allein. Was er spielte, war Sehnsucht – und manchmal dennoch Hoffnung ...
Aber diese letzte Hoffnung schien ihn vollends zu verlassen, als der Frieden kam. Das Heer war zerschlagen, und die Offiziere pochten an alle Türen, um Stellung zu finden. Auch er tat das, Hagen Dierks. Sang sein Liedchen wie es die andern taten: Man möge ihm nur Gelegenheit geben, sich einzuarbeiten, dann werde er schon zeigen, was er leisten könne. Aber man lachte ihn aus: Man habe Dutzende von Bewerbern für den Posten – und er sei der einzige, der einen guten Beruf habe und der sich jeden Tag leicht durchbringen könne. Und sie machten den Witz immer wieder: »spielend« könne er das – und freuten sich darüber.
Er suchte, suchte – und fand nichts. Es blieb ihm nichts andres übrig: Er mußte zurück auf das Podium.
So stand er da, wo er vor fünfzehn Jahren gestanden hatte. Nur – damals war er sehr jung. Heute ...
Heute spielte er, um sein Leben zu bestreiten.
Er lebte so bescheiden, wie es nur möglich war, schränkte sich auf allen Seiten ein, um nur möglichst wenig vor die Öffentlichkeit zu kommen. Seine großen Vorzüge als ernster Künstler verschafften ihm bald genug Verträge – er war, was er stets gewesen – gute zweite Klasse. Aber zugleich trat sein großer Mangel immer deutlicher in Erscheinung.
Es war um die Zeit, etwa zwei Jahre nach dem Kriege, daß er Inger Asten kennenlernte. Er war etwa acht Wochen mit ihr zusammen – oder doch: er kannte sie so lange. Ob zwischen den beiden ein regelrechtes Liebesverhältnis bestand, vermochte Herr Reininghaus nicht festzustellen. Seiner Vermutung nach handelte es sich, wenigstens was Hagen Dierks anging, nur um ein ganz flüchtiges Abenteuer, bei dem kaum ein tieferes Gefühl mitspielte. Hier haben seine Nachforschungen beinahe nichts ergeben, während sie auf der andern Seite, der der jungen Dame, eine Reihe von immerhin interessanten Tatsachen zutage förderten.
Fräulein Inger Asten erschien eines Tages in einer Münchener Künstlerpension. Papiere hatte sie nicht; sie war von Riga geflohen, während der Bolschewistenherrschaft in der Stadt. Ihre Mutter war an ihrer Seite durch eine verirrte Kugel auf der Straße erschossen, ihr Vater und ihre beiden Brüder im Gefängnis zu Tode gequält worden. Sie lebte in München von dem Verkauf von Schmucksachen, wie so viele andere vertriebene Balten und Russen in jenen Jahren. Sie verkehrte mit wenigen jungen Malern und Musikern, die sie in der Pension kennengelernt hatte, darunter Hagen Dierks.
Ihr Alter hatte sie auf zwanzig Jahre angegeben. Sie war sehr blauäugig, sehr weißblond und von pfirsichfarbener Gesichtsfarbe. Nichts von all dem Entsetzlichen, das sie durchgemacht, hatte sich ihren Zügen eingeprägt, noch ließ ihr Wesen etwas davon merken. Sie sprach fast nie davon. Nur mit Mühe hatte die Dame, die dem Fremdenheim vorstand, Einzelheiten aus ihr herausgeholt – das war, als sie einige Angaben haben mußte, um dem Flüchtling eine längere Aufenthaltserlaubnis in München erwirken zu können. Dann freilich hatte das junge Mädchen in ihrer Gegenwart dem betreffenden Beamten eine solche Fülle grauenhafter Dinge erzählt, daß die beiden vom bloßen Zuhören seekrank wurden. Aber alles ohne jede Erregung, ganz ruhig, einfach und still – doch so, daß man nicht einen Tag an der Wahrheit all dieser Entsetzlichkeiten zweifeln konnte. Als die Pensionsdame dann mit ihrem Schützling in dem Paternoster des Polizeigebäudes hinunterfuhr, fiel ihr ein, daß Inger Asten nur über das Schicksal ihrer Familie, ihrer Verwandtschaft und Freundschaft gesprochen – aber nicht ein einziges Wort über sich selbst gesagt hatte. Nur das, was ihre Augen gesehn hatten, hatte sie berichtet – nichts aber von dem, was ihr selbst geschehn war. Sie fragte sie also darnach. Die junge Baltin wurde sehr wortkarg; es schien, als ob sie nur antwortete, um gegen die alte Dame, die sich ihrer so freundlich annahm, nicht unhöflich zu erscheinen. Aus ihren vagen Antworten konnte diese nichts Sicheres entnehmen, bestand auch nicht weiter darauf, um nicht offene Wunden noch mehr aufzureißen. Dennoch hatte sie das bestimmte Empfinden, als ob die persönlichen Erfahrungen ihres Pfleglings noch schlimmer sein mußten als all das, was sie dem Beamten berichtet hatte. Sie gewann dabei – durch ein paar hingeworfene Worte – den Eindruck, als ob die junge Baltin von einer Horde unmenschlicher Kerle auf das schwerste mißhandelt und vergewaltigt worden sei. So stark war diese plötzliche Erkenntnis, daß sie die ganze furchtbare Szene deutlich vor sich sah – so sehr, daß sie ihre Gedanken sofort aussprach und, sprudelnd und hastend, auf den Kopf dann dem jungen Mädchen das zusagte. Da faßte Inger Asten ihren Arm mit einer Hand, die leise zitterte. »Fragen Sie mich nicht!« bat sie. Und die alte Dame nickte, preßte sie an sich und küßte sie. Sie schluchzte und weinte dazu – und es war Inger Asten, die ihr die Tränen von den Wangen trocknete.

Marcel Allaround brachte die beiden zusammen, Hagen Dierks und Inger Asten. Er hieß nicht so; er hatte sich diesen Namen nur fürs Varieté zugelegt – Moritz Benedict nannte er sich im bürgerlichen Leben. Immerhin: Allaround war ein guter Name für ihn: Er ritt in allen Sätteln. Er hatte Medizin studiert und alle Examina gemacht, ohne jemals sich um praktische Ausübung zu kümmern. Er spielte ein halbes Dutzend Instrumente, dirigierte und komponierte auch; dabei zeichnete er, malte, radierte und schrieb zwischendurch Gedichte und Theaterstücke. Er gab gern hypnotische Sitzungen; seinen Lebensunterhalt aber verdiente er am Varieté – als Grotesktänzer. Mit dem Geiger verband ihn eine leichte Freundschaft – vom Kriege her, als sie beide Flieger waren.
Damals hatte ihm Dierks ein geweihtes Kreuzchen geschenkt, das ihm eine seiner Verehrerinnen gesandt hatte. Marcel wollte wenig davon wissen. »Versuch's immerhin!« lachte Dierks. »Jedesmal ist was los mit deiner Klamotte – keiner hat mehr Pech als du! Es ist ein Wunder, daß sie dich nicht längst abgeknallt haben. Versuch's also, vielleicht ist's grade das richtige für dich.«
Murrend steckte Marcel das Goldkreuzchen ein. An dem Tage klappte es, und es klappte immer seither. Er ließ es nicht mehr aus der Westentasche und schwor heilige Eide darauf.
Als er Jahre später den Geiger in München wiedertraf, merkte er gleich, daß etwas nicht stimmte – und fand bald heraus, was es war. »So ist es nun einmal«, schloß Dierks. »So ist es – und so wird es bleiben. Schicksal – und fertig!«
»Nein, nicht fertig!« rief Marcel. »Schicksal – meinetwegen – aber das fliegt so, wie der Wind bläst!« Er schwieg ein paar Augenblicke, überlegte. Dann sagte er: »Ich kannte einmal eine – Inez hieß sie. Ein großes Luder, nahm den Leuten das Geld ab und warf es zum Fenster hinaus. Aber ihr Handwerk kannte sie gut – machte es fast zu einer Kunst. Sie hatte die beste Sammlung pornographischer Japandrucke, die es gab in Europa; ihre schwarze Folterkammer war erstaunlich. Es gab keine wildeste Perversität, die sie nicht übte – nie war eine raffinierter als sie. Die große Inez ...«
»Denkst du, daß mich das sehr interessiert?« sagte der Geiger.
»Warte nur«, rief der andere. »Es wird dich interessieren.« Und er fuhr fort, ihr Lob zu singen. Erzählte von ihrer Bibliothek, von ihren Gastmahlen, beschrieb ihr Schlafzimmer und ihre Marterwerkzeuge. »Sie ist die einzige, die je wissenschaftlich arbeitete. Sie war während zweier Jahre Sekretärin bei Lombroso – und fast ebensolang bei Krafft-Ebing in Wien. Alle Psychiater Europas kannten sie – und viele schickten ihre Patienten hin. Denn das war der Inez' Marotte: kranke Männer zu heilen.«
»Wovon?« fragte Dierks.
Marcel sagte: »Frage! Vom Verlust ihrer Mannheit natürlich – wovon sonst? Jeder Sexualpsychologe hat das Sprechzimmer vollsitzen von solchen Leuten vielen darunter, mit denen er nichts anzufangen weiß. Oft jungen, völlig gesunden, starken Leuten – irgendein Rädchen ist los, und da geht's nicht mehr. Wenn die Ursache der Impotenz sich feststellen läßt, ist's ja leicht, zu helfen oder wenigstens zu verkünden, daß aus dem und dem Grunde eine Heilung unmöglich sei. Wenn aber der ganze Bengel so gesund und kräftig sich durchs Leben spielt wie ein Aal im Teich – wenn man weiter nichts 'rauskriegen kann, als daß der Kerl schrecklich gern möchte und nur nicht kann – wenn man nur so allgemein auf Nerven hin behandelt, auf Neurasthenie, auf eine mutmaßliche Zwangsvorstellung –, ja dann ist der Erfolg ein Lotteriespiel. Solche unmöglichen Fälle aber behandelte Inez. Das war ihr Steckenpferd – und ihr Stolz zugleich. Sie sprach mit solchen Leuten stundenlang. Dann sperrte sie sich ein, empfing niemanden, zermarterte ihr Gehirn. Und fand – am nächsten Tage schon – manchmal auch erst nach Wochen – irgendeinen wilden Wahnsinn. Etwas ganz Unmögliches, lächerlich Absurdes oft – bald ein unglaublich Schmutziges und bald ein fast kindliches Naives –, aber immer etwas, was diesem Mann das wiedergab, ohne das ihm das Leben nicht mehr lebenswert schien. Ah – ich glaube, diese Frau hätte selbst Abälard wieder glücklich machen können – dann freilich hätten wir nie Héloisens hübsche Episteln lesen können!«
Der Geiger lachte. »Herrgott – in der Beziehung hat sich noch keine über mich beklagt! Ich sehe also nicht recht ein, was deine Zauberin ...«
»Die nicht!« unterbrach ihn der andere. »Die kann kaum helfen in deinem Falle. Aber die Sache ist am Ende genau dieselbe. Nimm so einen Mann – du hast sicher Dutzende kennengelernt mit den Jahren. Etwas ist in Unordnung: Plötzlich oder auch ganz allmählich geht's nicht mehr. Manchmal lacht er – und manchmal heult er, wie grade sein Temperament ist. Läuft zu Freunden, zu Ärzten. Doktert an sich herum. Versucht tausend Mittel und noch eins. Frißt jeden Rat und jede Medizin – wird immer unglücklicher und verzweifelter. Und keiner kann herausfinden, wo der Fehler steckt. Bis vielleicht so ein Freudianer kommt und den Schleier lüftet – aber ich sage dir, die Methode der Inez ist mir lieber. Die psychoanalytische Kur nimmt verdammt viel Zeit weg – und ich hab' da manche Heilung gesehn, die nur sehr scheinbar war. Was hat's dir denn geholfen? Die Inez aber bekümmerte sich den Teufel um Ödipus- und Narzißkomplexe, sie dachte nicht daran, das Unkraut auf dem Seelenacker zu suchen und dann auszujäten. Sie lief herum mit ihrer Wünschelrute und suchte. Fand einen Quell und bohrte tief, ließ das Wasser hervorsprudeln und machte den dürren Acker von neuem blühn. Dieser geheime Quell sah manchmal sehr trübe aus, war oft recht schmutzig und giftig – aber es scheint ja, als ob Mist und Schmutz und Blut die besten Düngemittel seien. Wie immer er war – er kam aus der Seele selbst und war sicher für diesen Leib das einzig richtige Mittel.
Nun sieh: Etwas ist los mit deiner Kunst! Du hast dich durch all die Jahre genauso benommen wie alle die armen Kerle, die dem Traume ihrer Mannheit nachliefen. Hast gelacht und geheult – vermutlich beides. Hast gearbeitet an dir, hast gedoktert, hast dein Leben vergiftet, bist herumgelaufen, hast allen Rat eingestopft. Hast dich überfressen an Medizin – bis sie dir zum Ekel wurde. Dann: rostige Nägel, Georgstaler, Heiligenbildchen, Jadestücke – jeder Blödsinn war dir recht; nichts hast du unversucht gelassen. Hast dich elend gequält, warst sehr unglücklich und verzweifelt. Und nichts half – bis zu dieser Stunde –, gar nichts! Stimmt's?«
Hagen Dierks seufzte. »Es stimmt!« sagte er. »Weißt du eine Inez für impotente Geigenspieler?«
Dr. Marcel Allaround wiegte den Kopf. »Vielleicht – vielleicht! Ich weiß, wie sie arbeitete. Wie sie erst alles erwog – nur mit dem Verstand. Wie sie mit beispiellosem Gedächtnis aus ihrer Erfahrung schöpfte, Vergleiche anstellte, jeden kleinsten Umstand scharf untersuchte. Und wie sie sich schließlich somnambul in sich selber verkroch, tief untertauchte in einem unfaßbaren Glauben. So fand sie, was so viele Professoren von Weltruhm vergeblich gesucht hatten: das seltsame Heilmittel für ihre Kranken.«
»Und du«, sagte der Geiger, »du willst ...?«
»Ja, das will ich!« nickte Marcel. »Ich habe es immer mal versuchen wollen. Nur weißt du, es stand mir nicht dafür in dem Spezialgebiet der schwarzen Inez. Ob halbe Männer ganze Männer werden – du lieber Gott, das ist mir höchst gleichgültig. Aber ich meine, es wäre der Mühe wert, aus dem halben Künstler Hagen Dierks einen ganzen zu machen! Und darum will ich's versuchen.«
»Also schön!« lachte der Geiger. »Das ist sehr lieb von dir. Kann ich dabei mithelfen?«
Dr. Allaround schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er ruhig. »Oder doch nur, wenn du die ganze Sache nicht gar so lächerlich nehmen wolltest. – Ob mir's gelingen wird, weiß ich nicht. – Aber versuchen werde ich's, ob du nun magst oder nicht.«

Zwei Tage später stellte er dem Freund Inger Asten vor.
»Hat die etwas mit deinem Versuche zu tun?« fragte der Geiger.
Marcel antwortete: »Das weiß ich nicht. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Übrigens geht's dich nichts an. Sei lieb – spiel ihr vor, oder schenk ihr ein paar Konzertkarten; sie kann sich's nicht leisten, welche zu kaufen, und sie verdient, daß man sich etwas kümmert um sie.«
An diesem Abend fuhr er auf einen Monat nach Hamburg, um ein Gastspiel zu absolvieren.

Was er wußte, erfuhr Herr W. T. Reininghaus von der alten Leiterin des Fremdenheims, von Dr. Benedict-Allaround sowie von ein paar Leuten, die auch in der Pension wohnten und die die eine oder andere Einzelheit beisteuerten.
Sehr übereinstimmend waren diese Berichte in vielen Stücken. So, daß Inger Asten im allgemeinen sehr still und zurückgezogen gelebt habe, oft wochenlang nur zu den Mahlzeiten aus ihrem Zimmer herausgekommen sei. Daß sie eigentlich immer wie im Traume herumgelaufen sei und kaum jemals sich über etwas richtig gefreut oder herzhaft gelacht habe. Jede kleine Einladung habe sie zwar stets dankbar angenommen – habe auch immer wieder einen ernsthaften Versuch gemacht, sich mit diesem oder jenem zu beschäftigen, um sich zu zerstreuen. Aber das sei ihr kaum je gelungen. Alles dauerte nur eine kurze Weile – dann gab sie es auf.
Am längsten, erzählte die alte Dame, habe sie einmal ihr zuliebe ausgehalten. Sie sei auf einige Zeit zu dringendster Erholung aufs Land gegangen; die junge Baltin habe sich erboten, während dieser Zeit die Pension zu leiten. Und sie habe das in geradezu musterhafter Weise getan. Der Urlaub war auf vier Wochen berechnet – zwei Tage vor seinem Ende habe Inger Asten sie durch ein dringendes Telegramm zurückgerufen. Alles war in denkbar bester Ordnung – nur würde es nicht einen Tag länger gehn, erklärte das junge Mädchen.
In andrer Beziehung aber liefen diese Berichte sehr auseinander. So sagte ihm ein junger Jurist, daß er nie eine Frau gesehn habe, die einen so instinktiven Abscheu, ja Ekel vor jeder Berührung eines Mannes gehabt habe. Diese Beobachtung wurde von der Pensionsdame bestätigt. Sie habe oft bemerkt, erzählte diese, daß Fräulein Asten sich habe überwinden müssen, einem fremden Herrn, der ihr grade vorgestellt wurde, auch nur die Hand zu reichen. Sie habe mehr als einmal gesehn, wie sie zusammenzuckte, sich schüttelte und aufsprang, wenn unversehens ein Herr sie in der harmlosesten Weise berührte.
Demgegenüber erklärte eine junge Sängerin, daß das alles blühender Unsinn sei. Sie wisse ganz genau, daß Inger Asten ihre Tugend nur im Hause selbst zur Schau getragen, aber außerhalb recht wenig Gebrauch davon gemacht habe. Sie habe Herrn, die sie kaum gekannt habe, von Zeit zu Zeit besucht – und dann weiter keine großen Umstände gemacht. Und sie nannte lachend die Namen einiger Maler und Schauspieler, denen sie ihre Liebe – stundenweise – geschenkt habe.
Dr. Benedict-Allaround zuckte die Achseln, als ihn Herr Reininghaus dieserhalb befragte. »Das mag schon sein!« meinte er. »Die Beobachtungen sind vermutlich alle beide richtig; schließen sich jedenfalls nicht aus. Ihr beispielloser Ekel vor einer körperlichen Berührung von Männern war ganz sicher echt; ich habe das selbst dutzendmal beobachtet. Es ist sehr leicht erklärlich, wenn das, was sie der Pensionsdame erzählte – oder wenigstens zugab – richtig ist; und ich habe nicht den leisesten Grund, daran zu zweifeln. Ich vermute vielmehr, schließe das aus gelegentlichen Andeutungen, die sie mir gegenüber machte, daß es mit der einen schauderhaften Szene, die unserer guten Pensionsmama ein paar schlaflose Nächte kostete, also noch in die Ferne wirkte, nicht getan war. Fräulein Asten hat vielmehr, um den Versuch zu machen, ihren im Gefängnis schmachtenden Vater und Brüdern zu helfen, mit einem der Kerle, vermutlich einem etwas höherstehenden, eine Art Pakt geschlossen – vielleicht auch, um so wenigstens den andern zu entgehen. Das mag durch Wochen so gegangen sein, bis die Mobherrschaft in Riga zusammenbrach. Einen ihrer Brüder, einen Jungen von fünfzehn Jahren, hat sie auch wirklich aus dem Gefängnis retten können – er starb freilich schon, ehe sie nach Königsberg kamen.
Das aber erklärt das eine wie das andere. Erklärt ihren Widerwillen gegen alles Männliche, der oft bis zum Übelwerden sich steigerte – und zugleich auch, zu gewissen Perioden, das nymphomanische Sichaufdrängen und Sichhingeben an fast völlig unbekannte und ungeliebte Männer.«
Über ihr Verhältnis zu dem Geiger befragt, bedauerte Dr. Benedict, keine genaue Auskunft geben zu können, da er nur auf Mutmaßungen angewiesen sei. Er verreiste am selben Abend, als er die beiden miteinander bekanntgemacht hatte, war über sechs Wochen fort und sah Fräulein Asten erst wieder, als Hagen Dierks schon München verlassen hatte. »Doch ist ganz gewiß«, sagte er, »daß sie ihn liebte – ja, daß er der einzige Mann war, den sie jemals geliebt hat. Auf der andern Seite habe ich die feste Überzeugung, daß sie grade aus diesem Grunde sich ihm nicht an den Hals warf. Wie weit sie einer großen Liebe fähig war, weiß ich nicht; doch begriff sie sicher recht gut, daß der Leib, den sie in Studentenbuden und Malerateliers oft verschenkt hatte, keine große Gabe für den Mann sei, den sie wirklich liebte. Und sie liebte den Menschen wie den Künstler Hagen Dierks – an dessen große Kunst sie fest glaubte. Als ich Hagen ihr vorstellte, geschah es sicher mehr um ihret- als um seinetwillen – aus einer Art gutmütigen Mitleids heraus. Was ihn betrifft, so war meine Empfindung, daß ihm diese Frau vielleicht einmal helfen könne, nur sehr vage und ungewiß. Ich fühlte, daß in beiden Schicksalen eine gewisse Ähnlichkeit lag – so seltsam das auch klingen mag; und ich glaubte, daß sie vielleicht harmonieren würden. Das taten sie. Doch vergaß ich, daß, falls sich Fräulein Asten wirklich in ihn verlieben würde, gerade diese Liebe ihrer aus vielen Wunden blutenden Seele eine neue hinzufügen mußte, die so schlimm brannte wie nur eine der andern.«
In der Tat machte Inger Asten bei dieser Unterredung – die übrigens die letzte war, die sie mit Marcel Benedict oder einem andern Menschen hatte – nicht das geringste Hehl aus ihrer starken Zuneigung zu dem Geiger. Zugleich sprach sie sich ebenso offen darüber aus, daß diese Liebe von ihm kaum geteilt würde. Hagen Dierks sei sehr lieb und gut zu ihr gewesen – diese wenigen Wochen seien die schönsten ihres Lebens gewesen. Dennoch bilde sie sich keineswegs ein, daß seine Gefühle zu ihr über eine zwar nicht ganz gleichgültige, aber doch nur lauwarme Freundschaft hinausgingen. – Die ganze Unterhaltung drehte sich um die Person des Geigers. Sie fragte immer von neuem – und Dr. Benedict gab ihr bereitwillig jede Auskunft. Er erzählte ihr von der grotesken Lebenstragikomödie des Künstlers und vergaß auch nicht all die kleinen Zaubermittel, die er jetzt so konsequent verachtete, nachdem er sie früher der Reihe nach durchprobiert hatte. Er zog dabei sein eigenes Goldkreuzchen heraus, das ihm der Freund geschenkt und das ihm selbst so gute Dienste geleistet hatte.
»Glauben Sie dran?« fragte die junge Dame.
»Glauben?« lachte er. »Welche Frage! – Manchmal lache ich darüber. Manchmal kommt mir's für Augenblicke vor, als ob's für mich kein besseres Heil- und Schutzmittel gäbe auf der Welt.«
Er ereiferte sich. Bah, er wisse recht gut, daß jeder darüber lache. Aber lache nicht jeder über die Torheiten des andern – und nur deshalb, weil sie ihm fremd und unbegreiflich schienen? Jeder Primaner wisse heute etwas von den Verirrungen der Sexualpsyche – nun: Es brauche dazu des Geschlechtes nicht! Verirrungen der Seele gäbe es überall. »Nur auf das eine kommt es an«, rief er, »für jeden Hans seine Grete und für jedes Töpfchen seinen Deckel zu finden. Gelingt das, so endet alles in schönstem Glück, genau wie im ›Sommernachtstraum‹!«
Dann erzählte er ihr, wie er Hagen Dierks erzählt hatte, von der Methode seiner alten Freundin Inez. Verstand – Glauben – Erfahrung, das sei das dreieinige Zeichen und der große Schlüssel zum Glück.
Und dann plötzlich ...

Ein Page des Grand Hotel lief Hagen Dierks nach, als er gerade über den Kärntnerring ging, um zu seinem Konzert zu fahren. Gab ihm einen Eilbrief aus München.
Es waren nur drei Zeilen: »Ich bitte Dich, Beiliegendes am Abend Deines Konzertes in der Tasche zu tragen, öffne es nicht, ehe Du nicht Nachricht von mir hast. Marcel.«
Das »Beiliegende« war in weißes Papier gewickelt und sehr sorgfältig versiegelt. Hagen Dierks gab es mit dem Brief zurück in den Umschlag und steckte diesen in die Tasche. Zwei Minuten drauf hatte er es völlig vergessen.
Aber er dachte daran am andern Morgen – denn dieses Konzert brachte ihm den großen Erfolg und machte ihn in wenigen Stunden zu dem ersten Geigenkünstler seines Jahrhunderts. Er fühlte das, als er die Geige ans Kinn setzte, und wußte es fest nach dem ersten Stück.
Etwas war geschehn, ein Großes, Seltsames. Und es war ihm ein Geschenk gegeben worden, das nun sein eigen war und das ihm nie wieder jemand würde nehmen können.
Die Menschen rasten. Ließen ihn nicht mehr herunter vom Podium, verlangten ihn wieder und immer wieder. Er spielte unermüdlich – er hätte die ganze Nacht durchspielen können. Er gab eine Zugabe um die andere; und als man das Licht ausdrehte, um das Publikum zum Gehn zu bewegen, schrien sie doch nach ihm, und er spielte im Dunkeln weiter. Dann zerrissen sie ihn fast in Stücke im Künstlerzimmer.
Wie er nach Hause kam, wußte er nicht. Aber er lag in seinem Bett, als er aufwachte. Er besann sich auf alles – und dann fiel ihm auch der Brief von Marcel Benedict ein. Er nahm gleich das Telefon und gab ein Telegramm an ihn auf, gab Bericht über sein Spiel und bat um sofortige Nachricht.
Bis die ankam, vergingen vier Tage, während er zwei weitere Konzerte hatte.
Beide mit demselben rauschenden Erfolge.
Dann kam der Münchener Brief. Er las:

»Lieber Freund Hagen!
Ich versprach Dir zu helfen. Daß es mir gelang, ist nur zum kleinen Teile mein Verdienst. Du magst das Ding nun aus dem Papier nehmen: Es ist nichts als ein kleines Stückchen gelber Seidenschnur. Ein kleines Teilchen des Stricks, an dem sich Fräulein Inger Asten vor nun zwölf Tagen erhängt hat. Ich bat Dich, das Papier vorher nicht zu öffnen, weil ich sehn wollte, ob die von mir vorausgesehne Wirkung auch dann eintreffen würde, wenn Du nicht die leiseste Ahnung davon hattest, was Du eigentlich in der Tasche trugst.
Hier die kurze Schilderung der Vorgänge. Ich traf Fräulein Inger Asten nach meiner Rückkehr nach München in der Pension, in der ich wieder abstieg, und ich lud sie zum Abendessen ein. Wir speisten in der Odeonbar, sprachen eigentlich nur über Dich – das einzige, was sie zu interessieren schien. Ich geb' Dir mein Wort, daß ich den pathetischen Schluß keineswegs beabsichtigte, daß ich überhaupt ohne jede Absicht mit ihr sprach: Das alles machte sie aus sich selbst.
Ich würde, im Gegenteil, mir viel großartiger vorkommen, mir ordentlich imponieren, wenn ich die ganze Sache inszeniert und von vornherein beabsichtigt hätte, aber leider war das gar nicht der Fall. Obwohl ich die alleinige Ursache, obwohl ich der durchaus ›Schuldige‹ bin, bin ich dennoch völlig ›unschuldig‹, da mir in meiner – soll ich sagen: Dummheit? – auch nicht einen Augenblick während des ganzen Abends zum Bewußtsein kam, wie wundervoll geschickt ich für Dich arbeitete. Als ich sie nach Hause brachte und mich vor ihrer Zimmertür von ihr verabschiedete, hatte ich auch nicht die allerleiseste Ahnung davon, daß ich etwas getan hatte!
Also: Wir unterhielten uns von Dir. Das heißt: Ich erzählte – und sie hörte zu. Da ihr Interesse für Dich und Dein Spiel wirklich tiefgehend war – ich denke, sie hat Dich sehr geliebt –, so machte es sich, daß ich ihr schilderte, wie Du bist, den Künstler und den Menschen, und lang und breit auch von dem seltsamen ›Mangel‹ erzählte, der Dein Leben vergiftet hatte. Ich sagte ihr, daß ich Dir versprochen habe, zu helfen, und daß ich Dir von der Methode meiner alten Freundin erzählt habe ...
– ein Versprechen übrigens, das ich nicht hielt und eine Methode, die ich nicht anwandte ...
Glauben, Verstand, Erfahrung ...
Und dann plötzlich kam es. Ich sagte ihr, daß Du alle blöden Zauberkinkerlitzchen ausprobiert habest – Marienbildchen, Seepferdchen, Nephritsplitter –, da fragte sie, ob Du es jemals mit dem Strick eines Erhängten versucht habest? Ich weiß nicht, ob das je der Fall war, doch ich sagte: ja! Aber es hätte so wenig genützt, wie alles andere! ›Es muß eben in einem Zusammenhang stehn‹, sagte ich, ›sonst wird's nie helfen! Mein Kreuzchen half mir – vielleicht nur, weil grade er mir's gab! Was soll ihm ein Strick nützen, an dem ein beliebiger Mensch gehangen, den er nie gekannt? Wenn sich für ihn jemand aufhängen würde – nur für ihn – und nur zu dem Zweck, daß ihm die Schnur endlich das Glück bringen soll, das er seit soviel Jahren vergebens sucht ...‹
Ich redete das so hin, ohne mir das allergeringste dabei zu denken. Auch fiel mir nicht im entferntesten auf, daß diese Worte einen besonderen Eindruck auf sie gemacht hätten. Sie blieb ruhig wie zuvor, und wir plauderten weiter noch zwei Stunden lang. Dann gingen wir nach Hause – ich legte mich schlafen und dachte mit keinem kleinsten Gedanken daran, daß meine Worte den Grund dazu gaben, daß, ein paar Zimmer nebenan, ein schönes junges Weib für Dich sein Leben opferte.
Man fand sie am nächsten Mittag. Dazu einen Brief an die alte Pensionsinhaberin, die sie in wirklich rührender Weise für die Unannehmlichkeiten um Verzeihung bat. Sie hatte all ihre Sachen hübsch geordnet – übrigens genug Schmuck, um noch für zwei Jahre leben zu können. Einen Grund für ihre Tat gab sie nicht an. Sie bat darum, verbrannt zu werden – all ihre Habseligkeiten vermachte sie der alten Dame. Für Dich – oder für mich – kein Wort.
Wir hatten einige Aufregung in der Pension, Scherereien mit der Polizei usw. Endlich wurde die Leiche freigegeben und ist inzwischen verbrannt worden.
Das, lieber Freund, ist alles.
Geholfen ist Dir. Wie – das weiß ich nicht. Nicht einmal recht – wer es tat. Aber das ist gleichgültig. Was Du jetzt hast, war immer da: Nie kann aus einem Menschen etwas herauskommen, was nicht in ihm steckt. ›Gegeben‹ hat Dir also niemand etwas; nur: Eine verschlossene Tür wurde aufgestoßen ...
Dein Marcel B.«
Hagen Dierks fuhr am nächsten Tage nach München. Er traf seinen Freund dort nicht; der war wieder fort auf Gastspiel. Aber er sprach mit der alten Dame und bekam von ihr die Urne mit der Asche. Sie wollte zunächst sich durchaus nicht davon trennen; erst, als der Geiger erklärte, daß er das Studium ihres einzigen Neffen bestreiten wolle, eines armen Burschen, der eben das Gymnasium verlassen hatte, glaubte sie, dies Angebot nicht zurückweisen zu dürfen, und willigte ein.
Die Aschenurne gab Hagen Dierks einer Bank zur Aufbewahrung; holte sie aber nach wenigen Wochen wieder ab, als er von seiner Gastspielreise zurückkehrte. Um diese Zeit erwarb er das kleine Landgut am Niederrhein; dorthin brachte er all seine Habseligkeiten und auch die Urne. Sie fand in dem Garten Aufstellung, auf einem niederen Sockel. Geißblatt ließ er herumpflanzen.
Zwei Monate eines jeden der drei nächsten Jahre verbrachte der Geiger auf diesem Landsitz, und zwar stets August und September. Er hatte nie Besuch, sah während dieser Zeit keinen Menschen, mit Ausnahme einer Frau in mittleren Jahren, die ihm die Wirtschaft führte. Es war die ganz alleinstehende und vollkommen mittellose Witwe seines ersten Musiklehrers, der im Kriege gefallen war. Sie war zu ihm ins Künstlerzimmer gekommen, um seine Hilfe zu erbitten, gerade als er das Landgut gekauft hatte – er nahm sie sofort in seinen Dienst. Nur seine Agenten kannten seine Anschrift, und die hatten strengen Auftrag, jeden Besuch ihm fernzuhalten. Anfang Oktober zog er hinaus – dann gehörte er wieder der Welt.
Er ließ seiner Wirtschafterin genug Geld zurück, um während seiner Abwesenheit Haus zu führen. Während dieser Zeit erhielt sie stets nur einen einzigen Brief von ihm, der sich jedes Jahr wiederholte und immer den gleichen Wortlaut hatte:
»Liebe Frau Walter,
vergessen Sie nicht, für den Garten zu sorgen. Es sollen viele Blumen blühn. Nehmen Sie eine kleine Handvoll Asche aus der Urne und streuen Sie die über alle Blumenbeete.
Mit besten Grüßen
Ihr H. Dierks.«
Dieser Brief kam regelmäßig im frühen Frühling an; Frau Walter befolgte gewissenhaft seine Anweisung.
Und die Blumen blühten ...

Einmal an jedem Tag ging Hagen Dierks in den Garten. Nicht um eine bestimmte Stunde – meist am späten Nachmittag oder am Abend. Ein paarmal auch früh am Morgen und einmal oder zweimal gerade um Mittag in leuchtender Sonnenpracht.
Dann spielte er.
Manchmal auch stand er in Mondnächten auf. Nahm seine Geige, ging ans Fenster. Spielte hinaus in den Garten.
Die Witwe des Musikers Walter fragte nicht. Hagen Dierks, den sie als kleinen Jungen gekannt hatte, war sehr gut und freundlich zu ihr. Er war nicht verschlossen, aber still und schweigsam, und sie begriff, daß dies einsame Landgut, diese Urne im Blütengarten und dieses Geigenspiel etwas sei, das ihm gehöre, und an das sie nicht rühren dürfe. Über alles sprach sie mit ihm – nur dieser Kult der Geige wurde nie erwähnt zwischen ihnen.
Doch ließ sie ihre Arbeit ruhn und unterbrach ihren Schlaf, wenn er spielte. Sie zeigte sich nie, saß hinter den Vorhängen ihres Fensters, lauschte still und ergriffen. Sie hatte einst selbst ein Konservatorium besucht und war durch sechsundzwanzig Jahre die Frau eines Orchestergeigers gewesen – so kannte sie gut jedes einzelne der Stücke, die er spielte.
Oft hatte sie das gehört – und von vielen guten Künstlern.
Aber das, was sie hörte in diesen Sommerwochen – ah, ein ganz anderes war das.
Manchmal spielte er Wieniawski, so weich war der Sommerabend. Mazurken, Polonaisen oder die Legende. Die Mollakkorde schmeichelten durch die Zweige, und alle Düfte des Gartens wiegten sich in schwebendem Reigen. Unbestimmte, lyrische Sehnsüchte ...
Oder sie hörte ihn Boccherini spielen – und dann die Mozartkonzerte. Wie ein Dank für den Tag – oder das Leben. Fröhlich und sorgenlos – dann brummten die blanken Rosenkäfer.
Einmal, um Mittag, als das Gewitter immer noch nicht kam und die Schwüle wie Nebel drückte, spielte er Brahms-Joachim. Gerade dann: die ungarischen Tänze.
Jeden Tag spielte er und manche Nacht. Spielte Veracini, Giacomi di Paradiso, Geminiani. Spielte Tartinis Teufelstriller – und es schien Frau Walter, als ob zwei grüne Augen aufleuchteten im Gebüsch.
Palestrina und Orlandus Lassus ...
Dann wieder spielte er Schubert. Ein Lied und noch ein Lied. Viele, viele. Die Frau hinter dem Vorhang preßte die Hände zusammen. Zuletzt war es der »Leiermann«. – Und sie saß noch lange da, unbeweglich; eine um die andere liefen die Tränen über ihre Wangen. Sie starben nicht, diese Klänge – lebten weiter durch die stillen Lüfte.
Er spielte Spohr und Mendelssohn und die Schumannsche Phantasie. Aber nur in tiefer Nacht spielte er Beethoven – immer vom Fenster aus.
Erst die Romanzen und hinterher das D-Dur-Konzert. Sie dachte: Das ist kein Mensch mehr, der so spielt. Dies Adagio in G ...
Nun ist er allein, dachte sie – nur er ist da und die Gottheit. Abgestreift sind die irdischen Hüllen – versunken ist nun die Welt.
Und die Blumen wagten nicht mehr zu duften. Und der Rhein hielt seinen Atem an.
Je schneller aber die Zeit nahte, in der er wieder abfahren mußte, hinaus in die laute Welt – um so mehr spielte er Bach.
Dann ging er in den Garten zur Nacht. Stand ein paar Schritte vor der Steinurne, hob seine Geige. Fugen und Sonaten – da vermählten sich die Klänge den Mondesstrahlen. Ein Dom wuchs auf, rein wie Bergkristall, hoch hinauf von der Erde, bis ihn der Himmel deckte. Die »Chaconne« spielte er – und die lauschenden Blumen begriffen, daß es ihr Leid war, das er sang, und ihre Freude, daß sie keine Blumen mehr waren. Daß sie eines waren – ein süßer Duft – und daß dieser Duft eine Seele war. Die reine Seele einer toten Frau ...
Aber die Seele war glücklich.
Die Konzerte spielte Hagen Dierks, A-Moll und E-Dur. Da schwebte mit diesen Klängen die Seele hinauf: denn sie war die große Beichte, die er der Gottheit schenkte. Und der Gott aller Welten und Ewigkeiten küßte die süße Seele – da jubelte unten die Geige.
Jubelte: Vergebung. Jubelte: Befreiung.
So spielte Hagen Dierks.
Das ist alles, was Herr W. T. Reininghaus feststellte und was er öfter seinen Freunden erzählte. Ein einziger kleiner Umstand blieb ihm unbekannt – den hatte ihm Dr. Marcel Benedict-Allaround verschwiegen. Er erwähnte ihn später einmal, dem, der diese Geschichte niederschrieb.
Das war es:
Als die Münchner Polizei die Leiche Fräulein Astens vorläufig beschlagnahmte, nahm sie auch den Strick mit. Und soviel Mühe sich auch Dr. Benedict gab, ihn zurückzubekommen, es gelang ihm nicht – er war verloren oder hatte schon andere Liebhaber gefunden. So schnitt er von irgendeiner harmlosen und völlig unschuldigen gelben Seidenschnur ein Stückchen ab – das sandte er dem Freunde.
Und das ...


3. Kapitel

Alraune und der Chauffeur
Dies waren die fünf Männer, die Alraune ten Brinken liebten: Karl Mohnen, Hans Geroldingen, Wolf Gontram, Jakob ten Brinken und Raspe, der Chauffeur.
Von ihnen allen spricht des Geheimrats brauner Lederband, und von ihnen allen muß man erzählen in der Geschichte der Alraune.
Raspe, Matthieu-Maria Raspe, kam mit dem Opelwagen, den ihr die Fürstin Wolkonski zum siebzehnten Geburtstage schenkte. Er hatte bei den Husaren gedient und mußte nun auch dem alten Kutscher mit den Pferden helfen. Er war verheiratet und hatte zwei kleine Buben; Lisbeth, seine Frau, übernahm die Wäscherei im Hause ten Brinken. Sie wohnten in dem kleinen Hause, das neben der Bibliothek lag, dicht an dem eisernen Eingangstor zum Hofe.
Matthieu war blond und war groß und stark. Er verstand seine Arbeit, mit dem Kopf wie mit der Hand, und seinen Muskeln gehorchten die Pferde, wie es die Maschine tat. Früh am Morgen sattelte er die irische Stute seiner Herrin, stand im Hofe und wartete.
Langsam kam das Fräulein die Steintreppe hinab vom Herrenhause. Kam als Junge, in gelben Ledergamaschen und grauem Reitanzug; die kleine Schirmmütze über den kurzen Locken. Sie stieg nicht in den Steigbügel, ließ ihn seine Hände hinhalten, trat hinein und blieb so eine kurze Sekunde, ehe sie sich hinaufschwang in den Herrensattel. Dann schlug sie das Tier mit der scharfen Peitsche, daß es aufsprang und hinausjagte durch das offene Tor. Matthieu-Maria hatte alle Not, ihr nachzukommen auf seinem Wallach.
Die braune Lisbeth schloß das Tor hinter ihnen. Sie preßte die Lippen aufeinander und sah ihnen nach – ihrem Mann, den sie liebte, und dem Fräulein ten Brinken, das sie haßte.
Irgendwo auf den Wiesen machte das Fräulein halt. Wandte sich, ließ ihn herankommen.
»Wohin reiten wir heute, Matthieu-Maria?« fragte sie.
Und der sagte: »Wohin das Fräulein befehlen.«
Dann riß sie die Stute herum, galoppierte weiter. »Hopp, Nellie!« rief sie.
Raspe haßte diese Morgenritte nicht weniger, als es seine Frau tat. Es war, als ob das Fräulein allein ritt, als ob er nur Luft, nur ein Stück Staffage in der Landschaft sei, oder auch, als ob er gar nicht existierte für seine Herrin. Dann aber, wenn sie sich um ihn bekümmerte für kurze Augenblicke, dann empfand er das noch unangenehmer. Denn es war gewiß, daß sie wieder etwas Absonderliches von ihm verlangte.
Sie hielt am Rhein, wartete ruhig, bis er ihr zur Seite war. Er ritt langsam genug, wußte, daß sie irgendeine neue Laune hatte, hoffte auch wohl, daß sie darauf vergessen möge diesmal. Aber sie vergaß nie eine Laune.
»Matthieu-Maria«, sagte sie, »wollen wir hinüberschwimmen?«
Er machte Einwände, aber er wußte von vornherein, daß sie nichts nutzen würden. Die Böschung drüben sei zu steil, sagte er, man würde nicht hinaufkommen. Auch sei gerade hier die Strömung so reißend und ...
Er ärgerte sich. Alles war so zwecklos, was seine Herrin machte. Warum denn nur durch den Rhein reiten? Naß wurde man und fror, konnte froh sein, wenn man mit einem Schnupfen davonkam. Riskierte dabei zu ersaufen – um nichts und wieder nichts. Und er nahm sich fest vor, zurückzubleiben – mochte sie doch ihre Narrheiten allein treiben. Er hatte Frau und Kind ...
So weit kam er – dann ritt er doch in die Fluten. Trieb weit hinunter mit dem schweren Mecklenburger, hatte alle Mühe, irgendwo zwischen den Klippen ans Ufer zu gelangen. Schüttelte sich und fluchte, ritt im scharfen Trabe den Strom hinauf, seiner Herrin zu. Die sah ihn kaum an, mit einem raschen spöttischen Blick.
»Naß geworden, Matthieu-Maria?«
Er schwieg, verletzt und verärgert. Warum nannte sie ihn beim Vornamen, warum sagte sie »du« zu ihm? Er war Raspe, war Chauffeur und Pferdeknecht. Sein Hirn fand ein Dutzend gute Antworten, aber seine Lippen sprachen sie nicht.
Oder sie ritten zum Sand, wo die Husaren übten. Das war ihm noch fataler, manche der Offiziere und Unteroffiziere kannten ihn von der Zeit her, als er im Regimente diente. Und der schnauzbärtige Wachtmeister der zweiten Schwadron rief ihm höhnisch herüber: »Na, Raspe, wieder einmal ein bißchen mittun?«
»Hol der Teufel das verrückte Weibsstück!« brummte Raspe, aber er galoppierte doch hinterher, wenn das Fräulein die Attacke zur Seite mitritt.
Dann kam Graf Geroldingen, der Rittmeister, auf seinem englischen Schecken, plauderte mit dem Fräulein. Raspe blieb zurück, aber sie sprach so laut, daß er's hören mußte: »Nun Graf, wie gefällt Ihnen mein Knappe?«
Der Rittmeister lächelte: »Prächtig! Paßt zu dem jungen Prinzen.«
Raspe hätte ihn ohrfeigen mögen und das Fräulein dazu – und den Wachtmeister und die ganze Schwadron, die ihn angrinste. Er schämte sich, ward rot wie ein Schuljunge.
Aber schlimmer war es, wenn er nachmittags mit ihr fahren mußte im Auto. Er saß auf seinem Sitz am Steuer und schielte nach der Türe, seufzte erleichtert, wenn irgend jemand mit ihr hinaustrat; unterdrückte einen Fluch, wenn sie allein kam. Oft stellte er sein Weib an, um herauszubringen, ob sie allein fahren würde; dann nahm er schnell ein paar Teile aus der Maschine, legte sich platt auf den Rücken, schmierte und fegte, tat, als ob er etwas reparieren müßte.
»Wir können heute nicht fahren, Fräulein«, sagte er. Und er lachte vergnügt, wenn sie aus der Garage war. Dann wieder ging es ihm nicht so gut. Sie blieb ruhig da, wartete. Sie sagte nichts, aber es war ihm, als verstände sie gut seinen Schwindel. So setzte er, langsam genug, seine Schrauben zusammen.
»Fertig?« fragte sie. Und er nickte.
»Siehst du«, sagte sie, »es geht besser, wenn ich dabei bin, Matthieu-Maria.«
Wenn er zurückkam von diesen Fahrten, wenn sein Opelwagen wieder unter Dach stand und er sich niedersetzte an den Tisch, den seine Frau ihm gedeckt, zitterte er manchmal. Er war bleich, und seine Augen blickten starr, Lisbeth fragte ihn nicht; sie wußte, was es war.
»Das verdammte Weibsbild!« murmelte er. – Sie holte ihm die blonden, blauäugigen Buben, weiß in frischen Nachtkitteln, setzte ihm einen auf jedes Knie. Da wurde ihm froh und leicht mit den lachenden Kindern. Und wenn die Knaben im Bett lagen, wenn er draußen auf der Steinbank saß und seine Zigarre rauchte, wenn er durchs Dorf schlenderte, oder durch den alten Garten der ten Brinken, dann überlegte er mit seiner Frau. »Es kann kein gutes Ende nehmen«, sagte er. »Sie hetzt und hetzt – kein Tempo ist ihr schnell genug. Vierzehn Protokolle in drei Wochen ...«
»Du brauchst sie nicht zu zahlen«, sagte Frau Lisbeth.
»Nein«, sagte er, »aber ich bin verschrien überall. Die Gendarmen nehmen schon ihr Notizbuch heraus, wenn sie nur den weißen Wagen sehen und die I. Z. 937!« Er lachte. »Na, bei der Nummer irren sie sich ausnahmsweise nicht! – Wir verdienen wenigstens unsere Protokolle.«
Er schwieg, zog einen Schraubenschlüssel aus der Tasche und spielte damit. Seine Frau schob ihren Arm unter den seinen, nahm ihm die Mütze ab und strich ihm das wirre Haar zurück. »Weißt du eigentlich, was sie will?« fragte sie. Gab sich Mühe dabei, ihre Stimme harmlos und gleichgültig klingen zu lassen.
Raspe schüttelte den Kopf. »Nein, Frau, das weiß ich nicht. Sie ist verrückt – das ist es. Und sie hat eine verdammte Art, daß man alles tun muß, was sie will, ob man sich auch noch so dagegen wehrt und genau weiß, daß es Unfug ist. Heute ...«
»Was hat sie heute gemacht?« fragte Frau Lisbeth.
Und er sagte: »Oh – nicht mehr als sonst. Sie kann kein Auto vor sich fahren sehen – sie muß es überholen und wenn es dreißig Pferdekräfte mehr hat als unseres. Ketschen nennt sie das. ›Ketsch es!‹ sagt sie zu mir, und wenn ich zögere, legt sie leicht die Hand mir auf den Arm. Da leg' ich los, als ob der Teufel selbst die Maschine steure.«
Er seufzte, klopfte sich die Zigarrenasche von der Hose. »Immer sitzt sie neben mir«, fuhr er fort, »und schon, daß sie nur dasitzt, macht mich unruhig und nervös. Ich denke nur, was sie mir diesmal für einen Blödsinn befehlen wird. Hindernisse nehmen – das ist ihre größte Freude – Planken, Sandhaufen und solche Dinge. Verdammt, ich bin nicht feige – aber es muß doch irgendeinen Zweck haben, wenn man jeden Tag sein Leben riskiert. – ›Fahr nur‹, sagte sie neulich, ›mir passiert nichts!‹ Sie ist seelenruhig, wenn sie im Hundertkilometertempo über einen Chausseegraben springt – schon möglich, daß ihr nichts passieren kann! – Aber ich schlag' mich zuschanden – morgen oder übermorgen!«
Frau Lisbeth preßte seine Hand. »Du mußt es versuchen, ihr einfach nicht zu gehorchen. Sag nein, wenn sie etwas Dummes will! Du darfst dein Leben nicht so aufs Spiel setzen, das bist du uns schuldig – mir und den Kindern.«
Er sah sie an, still und ruhig. »Ja, Frau, das weiß ich. Euch – und auch mir selbst am Ende. – Aber schau, das ist es ja gerade: Ich kann dem Fräulein nicht nein sagen. Niemand kann es. Wie ihr der junge Herr Gontram wie ein Hündchen nachläuft, wie all die andern froh sind, ihre närrischen Launen zu erfüllen! Und keiner von allen Leuten im Hause mag das Fräulein leiden – dabei tut doch ein jeder, was sie will, und wenn es noch so dumm ist und abgeschmackt.«
»Falsch!« sagte Frau Lisbeth. »Froitsheim, der Kutscher, tut das gar nicht.«
Er pfiff. »Froitsheim! Da hast du recht. Der dreht sich um und geht weg, wenn er sie nur sieht. Aber er ist bald neunzig Jahre alt und hat schon lange kein Blut mehr.«
Sie sah ihn groß an. »Dann kommt es – vom Blut, Matthieu, daß du ihren Willen tun mußt?«
Er wich ihr aus, suchte mit den Augen auf dem Boden. Dann aber nahm er ihre Hand, blickte sie voll an. »Ja, siehst du, Lisbeth, ich weiß es nicht. Ich hab' schon oft darüber nachgedacht, was es eigentlich ist. Ich könnte sie erwürgen, ich ärgere mich über sie, wenn ich sie sehe, und wenn sie nicht da ist, laufe ich herum voller Angst, sie möchte mich doch rufen lassen.«
Er spie auf den Boden. »Verflucht noch mal!« rief er. »Ich wollte, ich wäre diese Stelle los! Wollte, ich hätte sie nie angenommen!«
Sie überlegten, drehten es hin und her, wogen jedes Für ab und jedes Wider. Und sie kamen zu dem Schlusse, daß er kündigen solle. Vorher aber sollte er sich nach einer andern Stelle umsehen, sollte gleich morgen deshalb in die Stadt gehen.
In dieser Nacht schlief Frau Lisbeth ruhig, zum ersten Male seit Monaten; Matthieu-Maria aber schlief gar nicht.
Er bat um Urlaub am nächsten Morgen, und er ging in die Stadt zum Vermittlungsbüro. Er hatte großes Glück, der Agent nahm ihn gleich mit zum Kommerzienrat Soenneken, der einen Chauffeur suchte, und stellte ihn vor. Raspe wurde engagiert, er bekam ein besseres Gehalt als bisher und dazu weniger Arbeit, auch mit Pferden hatte er nichts zu tun.
Als sie aus dem Hause traten, gratulierte ihm der Vermittler. Raspe sagte: »Danke« – aber er hatte ein Gefühl, als ob gar nichts da sei, für das er sich zu bedanken habe, und als ob er diese neue Stelle nie antreten würde.
Doch freute es ihn, wie er seiner Frau Augen glücklich leuchten sah, als er es ihr erzählte. »In vierzehn Tagen also!« sagte er. »Wenn nur diese Zeit erst vorüber wäre!«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie fest, »nicht erst in vierzehn Tagen – morgen schon! Sie müssen es erlauben, du mußt mit dem Geheimrat sprechen.«
»Das nützt gar nichts«, antwortete er. »Der wird mich an das Fräulein weisen – und ...«
Frau Lisbeth griff seine Hand: »Laß nur!« schloß sie. »Ich werde selbst mit dem Fräulein reden.«
Sie ließ ihn stehn, ging über den Herrenhof, ließ sich melden. Und während sie wartete, überlegte sie genau, was sie alles sagen wollte, um ihre Bitte durchzusetzen, gleich morgen gehen zu dürfen.
Aber sie brauchte gar nichts zu sagen. Das Fräulein hörte nur, daß er gehen wolle, ohne Kündigung; nickte kurz und sagte, daß es gut sei.
Frau Lisbeth flog zurück zu ihrem Manne, umhalste, küßte ihn. Nur eine Nacht noch – dann sei der böse Traum vorbei. Und man müsse gleich packen – und er solle dem Kommerzienrat telefonieren, daß er morgen schon seine Stellung bei ihm antreten könne. Sie zog den alten Koffer unter dem Bette hervor; ihr heller Eifer steckte ihn an.
Er schleppte seine eisenbeschlagenen Kisten heran, staubte sie aus, half ihr beim Packen. Reichte ihr alles zu, lief zwischendurch ins Dorf, bestellte einen Karren, der ihre Siebensachen fortschaffen sollte. Und er lachte und war zufrieden – zum ersten Male in diesem Hause ten Brinken.
Dann, als er die Kochtöpfe vom Herde nahm, eindrehte in Zeitungspapier, kam Aloys, der Diener. Er meldete: »Das Fräulein will ausfahren.«
Raspe starrte ihn an, sprach kein Wort. »Fahr nicht!« rief seine Frau.
Und er sagte: »Bestellen Sie dem Fräulein, daß ich heute nicht mehr ...«
Er endete nicht; Alraune ten Brinken stand in der Türe.
Sie sagte: »Matthieu-Maria, ich hab' dich zu morgen entlassen. Heute will ich mit dir fahren.«
Dann ging sie, und hinter ihr ging Raspe.
»Fahr nicht – fahr nicht!« schrie Frau Lisbeth. Er hörte es wohl, aber er wußte nicht, wer es rief, noch woher es kam.
Frau Lisbeth ließ sich schwer auf die Bank fallen. Sie hörte die Schritte der beiden, über den Hof hin, der Garage zu. Sie hörte, wie das Eisentor sich öffnete, hörte das Auto, das hinausfuhr auf die Dorfgasse. Und sie hörte weiter noch einen kurzen Schrei der Hupe.
Das war der Abschiedsgruß, den ihr Mann ihr zurief, jedesmal, wenn er hinausfuhr durch das Dorf.
Sie saß da, beide Hände im Schoß. Wartete.
Wartete, bis sie ihn brachten. Vier Bauern trugen ihn, auf einer Matratze. Legten ihn mitten ins Zimmer, zwischen die Kisten und Kasten. Zogen ihn aus, halfen ihn waschen, wie es der Arzt befahl. Einen langen weißen Körper, voll von Blut, Staub und Schmutz.
Frau Lisbeth kniete bei ihm, wortlos, ohne Tränen. Der alte Kutscher kam, nahm die schreienden Knaben hinüber. Dann gingen die Bauern und endlich auch der Arzt. Sie hatte ihn nicht gefragt, mit Worten nicht und nicht mit Blicken. Sie wußte die Antwort, die er geben würde.
Einmal, mitten in der Nacht, erwachte Raspe, schlug die Augen auf. Er erkannte sie, bat sie um Wasser. Und sie gab ihm zu trinken.
»Es ist aus«, sagte er leise.
Sie fragte: »Wie kam es?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Das Fräulein sagte: ›Fahr zu, Matthieu-Maria.‹ Ich wollte nicht. Da legte sie ihre Hand auf meine, und ich fühlte sie durch den Handschuh. Dann fuhr ich. Sonst weiß ich nichts mehr.«
Er sprach so leise, daß sie ihr Ohr dicht an seinen Mund legen mußte. Und wie er schwieg, flüsterte sie: »Warum tatest du es?«
Wieder bewegte er die Lippen. »Verzeih mir, Lisbeth! Ich – ich mußte es tun. Das Fräulein –«
Sie sah ihn an, schrak heiß auf über den Glanz in seinen Augen. Und sie rief – oh, so plötzlich war der Gedanke, daß ihre Zunge ihn sprach, fast ehe ihr Hirn ihn gedacht –: »Du – du liebst sie?«
Da hob er, nur um Daumenbreite, den Kopf. Und er murmelte: »Ja – ja! Ich – fuhr – mit ihr.«
Das war das Letzte, was er sprach. Er sank zurück in seine tiefe Ohnmacht, blieb liegen so bis zum frühen Morgen. Schlummerte dann langsam hinüber.
Frau Lisbeth stand auf.
Sie lief zur Tür, dem alten Froitsheim in die Arme. »Mein Mann ist tot«, sagte sie. Und der Kutscher schlug ein großes Kreuz, wollte an ihr vorbei in die Stube. Aber sie hielt ihn zurück. »Wo ist das Fräulein?« fragte sie schnell. »Lebt sie? Ist sie verletzt?«
Tiefer gruben sich die tiefen Furchen in das alte Gesicht. »Lebt sie? – Ob sie lebt? Da steht sie ja! Verletzt? Nicht eine Schramme – nur ein bißchen schmutzig war sie!« Und er wies mit zitternder Gichthand hinunter in den Hof.
Da stand das schlanke Fräulein in ihrem Knabenanzug. Hob den Fuß, setzte ihn einem Husaren in die Hände, schwang sich in den Sattel ...
»Sie hat dem Rittmeister telefoniert«, sagte der Kutscher, »daß sie keinen Reitknecht habe zu heute morgen. Da hat der Graf seinen Burschen herausgeschickt.« Frau Lisbeth lief über den Hof: »Er ist tot!« rief sie. »Mein Mann ist tot.«
Alraune ten Brinken wandte sich im Sattel, winkte mit der Reitgerte. »Tot«, sagte sie langsam. »Tot – es ist wirklich schade.« Sie schlug leicht ihr Pferd, führte es im Schritt dem Tore zu.
»Fräulein«, schrie Frau Lisbeth. »Fräulein, Fräulein ...«
Doch die Hufe schlugen die alten Steine, kleine Funken sprühten herum. Und wieder, wie so oft, sah sie das Fräulein wie einen braungelockten Knaben durch die Dorfgasse traben, frech und keck, wie ein hochmütiger Prinz. Aber ein blauer Königshusar folgte hinter ihr, und nicht mehr ihr Mann – Matthieu-Maria Raspe ...
»Fräulein!« schrie ihre wilde Angst. »Fräulein – Fräulein ...«
Frau Lisbeth lief zum Geheimrat, strömte über von aller Verzweiflung und allem Haß. Der Geheimrat ließ sie ruhig reden, sagte, daß er ihren Schmerz verstehe und ihr all das nicht übelnehmen wolle. Auch sei er bereit, trotz der Kündigung, ihr noch ein Vierteljahr den Lohn ihres Mannes zu zahlen. Aber sie solle vernünftig sein und einsehen, daß er die Schuld trage an dem Unglück ...
Sie lief zur Polizei; da waren sie nicht so höflich. Sie hätten es kommen sehen, sagten sie, und jeder Mensch wisse, daß der Raspe der wildeste Fahrer gewesen sei am ganzen Rhein. Es sei eine gerechte Strafe, und sie hätte die Pflicht gehabt, ihn beizeiten zu warnen. Ihr Mann allein trage die Schuld, sagten sie, und sie solle sich schämen, dem jungen Fräulein die Sache in die Schuhe zu schieben! Habe die etwa am Steuer gesessen? Gestern? Überhaupt?
Und sie lief in die Stadt zu einem Anwalt. Und zu einem zweiten und dritten. Aber es waren ehrliche Leute, und sie sagten ihr, daß sie den Prozeß nicht führen könnten und wenn sie noch soviel Vorschuß zahle. O gewiß, das sei ja alles möglich und denkbar. Warum denn nicht? Aber habe sie Beweise? Nein, gar keine also! Sie solle nur ruhig nach Hause gehen – da sei gar nichts zu machen. Wenn das auch alles so wäre und wenn man es selbst beweisen könnte – – so trage ja doch ihr Mann die Schuld. Denn er sei eben ein Mann gewesen und ein gelernter und tüchtiger Chauffeur, aber das Fräulein sei ein unerfahrenes, kaum erwachsenes Ding ...
Sie kam nach Hause. Sie begrub ihren Mann, hinter der Kirche auf dem kleinen Friedhof. Sie packte ihre Sachen und lud sie selbst auf den Karren. Sie nahm das Geld, das ihr der Geheimrat gab, nahm ihre Buben und ging.
In ihre Wohnung zog ein neuer Chauffeur, ein paar Tage darauf. Der war dick und klein, und er trank auch. Das Fräulein ten Brinken mochte ihn nicht und fuhr selten allein mit ihm aus. Nie bekam er Protokolle, und die Leute sagten, daß er ein tüchtiger Mensch sei und viel besser als der wilde Raspe.


4. Kapitel

John Hamilton Llewellyns Ende

Prorsus credibile est, quia ineptum est:
– certum est, quia impossibile.
Tertullian, De Carne Christi, C. 5.

Vor einer guten Reihe von Jahren saßen wir einmal im Klub zusammen und plauderten über die Art und Weise, wie wohl ein jeder von uns sein Ende finden würde.
»Was mich betrifft, so kann ich auf einen Magenkrebs hoffen«, sagte ich. »Das ist zwar wenig angenehm, ist aber nun mal eine gute alte Familientradition; voraussichtlich die einzige, der ich treu bleibe.«
»Nun, und daß ich im ehrenvollen Kampfe mit einem Dutzend Milliarden Bazillen über kurz oder lang unterliegen werde, steht auch fest«, meinte Christian, der schon seit einem Jahr nur noch die zweite Hälfte seines letzten Lungenflügels spazieren führte.
Und so wenig romantisch wie diese waren die anderen Todesarten, die die übrigen mit mehr oder weniger großer Bestimmtheit sich prophezeiten. Banale, erbärmliche Todesarten, für die wir eigentlich alle viel zu schade waren.
»Ich gehe am Weibe zugrunde«, sagte der Maler John Hamilton Llewellyn.
»Ach, wirklich?« lachte Dudley.
Der Maler stutzte einen Augenblick, dann fuhr er langsam fort:
»Nein, ich werde an der Kunst zugrunde gehen.«
»Jedenfalls eine angenehme Todesart!« rief Joe.
»Oder auch nicht«, zweifelte der Maler.
Natürlich lachten wir ihn aus. Und legten ihm lange Odds, daß er ein schlechter Prophet sei.
Nach fünf Jahren sah ich Trower wieder, der damals auch im Pall-Mall war.
»Wieder einmal in London?« fragte er.
»Seit zwei Tagen.«
Ich fragte ihn, ob er heute abend zum Klub komme. Nein, er habe den ganzen Tag am Gericht zu tun. Ich glaube, Trower ist so etwas wie Staatsanwalt, wenn er nicht im Klub ist. – Ob ich bei ihm speisen wolle? Gern – Trower speist sehr gut.
Um zehn Uhr waren wir mit dem Kaffee fertig, und der Diener trug den Whisky auf. Lang im Ledersessel und die Füße am Kamin. Sagt Trower:
»Du wirst sehr wenige von damals noch im Klub finden, sehr wenige.«
»Wie das?« fragte ich.
»Die Jungens haben es überaus eilig gehabt, ihre Prophezeiungen wahr zu machen. Erinnerst du dich des Novemberabends, als wir über unsere Todesarten sprachen?«
»Freilich! Tags darauf reiste ich von London weg, um jetzt erst wieder einmal die Nase hineinzustecken.«
»Nun, Christian Breithaupt war der erste: nach einem halben Jahr starb er in Davos.«
»Kunststück! Der hatte leicht Wort halten.«
»Schwerer hatte er schon Dudley von den ›Queen's Own‹. Wer hätte damals denken können, daß die je aus London herauskämen? Er erhielt am Spionskop eine Kugel mitten vor die Stirn.«
»Damals glaubte er, er würde an einem Schuß in die Brust sterben. Aber immerhin – das kommt auf eins heraus.«
»Wir waren zu acht – fünf sind schon fort, jeder auf seine Art. Sir Thomas Wimbleton ist der dritte: Lungenentzündung – natürlich. Zum vierten Male. Er konnte eben das Entenjagen nicht lassen, fünf Stunden bis zum Bauch in der Themse. Mag der Teufel wissen, was das für ein Vergnügen ist!«
»Und Bodley?« fragte ich.
»Der lebt noch, du wirst ihn im Klub treffen. Ist gesund und frisch – wie du und ich. – Wie lange noch? Aber Macpherson ist auch tot, Schlagfluß, vor zwei Monaten. Er war fett wie ein Truthahn zu Weihnachten; nur daß es so schnell gehen würde, hätte niemand gedacht. – Fünfunddreißig ist er nur alt geworden, der gute Junge!«
»Bleibt der Maler übrig. Was ist aus ihm geworden?«
»Llewellyn hielt sein Wort besser als einer von uns. Er geht am Weib zugrunde und – an der Kunst.«
»Er geht zugrunde? Wie soll ich das verstehen, Trower?«
»Nun, er ist seit zehn Monaten im Narrenhaus zu Brighton, Abteilung für Unheilbare. Sein junges Modell, wohl zwanzigtausend Jahre alt, löste sich bei seinem heißen Kuß in Wohlgefallen auf. Das fuhr ihm derart ins Gehirn, daß er wahnsinnig wurde.«
»Ich bitte dich, Trower, laß mal deine Späße. Spotte, soviel du willst, über den feisten Macpherson und den bleichen Christian, über den hübschen Dudley und über Wimbletons Wasserjagden, aber laß mir Hamilton in Ruhe! Über Tote mag man lachen, aber nicht über Lebende, die im Irrenhaus sitzen.«
Trower strich langsam die Asche seiner Zigarette ab und mischte sich einen neuen Whisky. Dann nahm er das Eisen und stocherte in den glühenden Scheiten herum. Seine Züge veränderten sich ein wenig, die Unterlippe zog sich noch mehr herunter. »Ich weiß, der Maler stand dir näher als wir anderen. Das hindert nicht, daß auch du, wenn du seine Geschichte kennst, versuchen wirst, deine Lippen zum Lachen zu zwingen. Es gibt eine Tragik, deren lähmender Wirkung wir uns nur durch Spott entziehen können, und wo ist die Geschichte, die nicht ein lächerliches Moment böte?«
»Komm zu John Hamilton!« drängte ich.
»Seine Geschichte ist kurz das, was ich dir vorhin sagte: Eine junge Dame, die er malte und liebte, im holden Alter von wohl zwanzigtausend Jahren, löste sich bei einem Kuß in Wohlgefallen auf; darüber wurde er wahnsinnig. Das ist alles; wenn du willst, kann ich dir aber auch eine längere Erklärung geben.«
»Bitte! – Du kennst den Fall genau?«
»Sehr genau! Genauer, als mir lieb ist. – Ich hatte die amtliche Untersuchung zu führen und hätte mir den Kopf zerbrechen können, ob ich wegen Einbruchdiebstahls, wegen Sachbeschädigung, wegen Leichenschändung oder Gott weiß wegen welcher anderer Straftaten noch die Anklage gegen Llewellyn hätte erheben müssen, wenn nicht seine Überführung ins Irrenhaus der Untersuchung ein Ende gemacht hätte.«
»Das wird ja immer merkwürdiger!«
»So merkwürdig, daß du alle Kraft zusammennehmen mußt, um es überhaupt zu glauben.«
»So erzähle!«
»John Hamilton Llewellyn arbeitete schon ein halbes Jahr im Britischen Museum. Ich glaube, es war Lord Hunstanton, durch dessen Vermittlung er den Auftrag erhielt, die Wandgemälde im dritten Sitzungssaale zu malen. Er ist mit einer Wand kaum fertig geworden, und die Arbeit ist immer noch unvollendet. Man findet eben so leicht niemanden, der ihn ersetzen könnte. Er hatte Talent, Llewellyn, und Phantasie dazu: Die war es auch, die ihn ins Narrenhaus brachte.
Zu jener Zeit erhielt das Britische Museum eine Sendung von unschätzbarem Werte. Du hast gewiß vor einigen Jahren die Notiz gelesen, die damals alle Zeitungen durchflog und in der ganzen Welt ein berechtigtes Aufsehen erregte. Lamutische Jukagiren hatten in einem Eisspalt der Beresowka im Kolymadistrikt ein ausgewachsenes, fast völlig unversehrtes Mammut gefunden, nur der Rüssel war ein wenig beschädigt; der Gouverneur von Jakutsk hatte sofort darüber lang und breit nach Petersburg berichtet. Auf Veranlassung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften entsandte die Regierung den bekannten Forscher Otto Herz, den Konservator des Zoologischen Museums von St. Petersburg, sowie den Russen Aksakow und den deutschen Präparator Pfitzenmayer nach dem äußersten Nordosten, und es gelang ihnen, nach viermonatiger Reise und zweimonatiger Arbeit den riesigen Eisblock mitsamt dem vorsintflutlichen Dickhäuter unbeschädigt an die Newa zu bringen. Das Mammut ist eine der prächtigsten Zierden des Zarenmuseums, das einzige Stück dieser Art, das unsere Zeit besitzt. – Ich bemerke übrigens, daß diese ganze Gegend voll solcher Riesengeschöpfe steckt, wenn sie auch begreiflicherweise fast alle nur in Bruchstücken vorhanden sind. Die sibirische Sage nennt sie ›Mammantu‹, das heißt ›Erdgräber‹, und behauptet, daß sie riesige, in der Erde lebende Wühltiere seien, die sterben, sobald sie ans Tageslicht kommen. Die chinesische Elfenbeinindustrie verarbeitet seit Tausenden von Jahren fast ausschließlich in der Erde gefundene sibirische Mammutstoßzähne. Auch in der Lenamündung wurde im Jahre 1799 ein nur wenig versehrtes Mammut gefunden, das sieben Jahre später durch Adams nach Petersburg geschafft wurde, und dessen Bruchstücke durch alle Museen der Welt verstreut sind.
Nun, kurze Zeit nach dieser Unternehmung erhielt die Verwaltung des Britischen Museums einen geheimnisvollen Brief, der sie bewog, sofort den Schreiber nach London kommen zu lassen. Dieser Schreiber war niemand anders als der famose Aksakow, der sich durch einen genialen Diebstahl einige Millionen verdiente und heute in Paris seine Renten verzehrt. Aksakow hatte nämlich, als er mit seiner Tungusenkarawane das Mammut aus dem sibirischen Eise herausholte, dort einen noch weit wertvolleren Fund gemacht. Davon hatte er seiner Regierung kein Wörtchen gesagt; er ließ seinen Schatz vielmehr ruhig dort liegen, wo er schon viele tausend Jahre lag, und pilgerte seelenruhig mit seinem Dickhäuter nach Petersburg. Der Mann hatte wirklich eine Heidenarbeit gehabt und bekam einen Wutanfall nach dem andern, als, nachdem der Zar das seltene Tier im Museum besichtigt hatte, seine Vorgesetzten, der Konservator und der Präparator des Museums, Deutsche natürlich, eine tüchtige Belohnung und hohe Orden erhielten, während er sich mit der vierten Klasse desselben Ordens begnügen mußte. – Wer weiß, ob der Bursche nicht auch so seinen Brief geschrieben hätte; jedenfalls begründete er sein Vorgehen damit. Die Direktion des Britischen Museums hörte gern seine Gründe an: muß man doch das Gute nehmen, wo man es findet, und nicht lange fragen, wo es herstammt, namentlich wenn man das Britische Museum zu verwalten hat.
Der Vorschlag Aksakows war, seinen zweiten Fund aus Sibirien zu holen und persönlich nach London zu bringen. Bei der Ablieferung sollte sofort die Zahlung von 300 000 Pfund erfolgen. Ein Risiko hatte das Britische Museum gar nicht, mit Ausnahme von einer verhältnismäßig geringen Summe, deren der Russe für die Ausrüstung der neuen Reise bedurfte. Zur Vorsicht gab man ihm, der inzwischen aus dem russischen Staatsdienst ausgetreten war, noch zwei zuverlässige Engländer aus dem Stabe des Museums mit; ein englischer Walfischfänger brachte die Gesellschaft ins Eismeer. Während das Schiff herumkreuzte, und seine Besatzung sich mit Robben- und Fischfang die Zeit vertrieb, zog der Russe mit seinen beiden englischen Genossen und einer Horde gemieteter Tungusen ins Land. Dieses Unternehmen Aksakows war naturgemäß weit gefährlicher als das erste; damals war er mit dem Geleitbrief des weißen Zaren versehen, der ihm wie ein Zauberstab alle Hilfe gab, die überhaupt zu finden war; jetzt war er nicht nur auf sich ganz allein angewiesen, sondern er mußte noch tausend und eine List ersinnen, um nicht von einem der vielen Millionen Augen seines Zaren erblickt zu werden. Robert Harford, Lord Wilberforces Sohn, der mit bei der Partie war, erzählte mir davon; es war eine verteufelte Geschichte. Ein verdammt feiner Bursche war der Russe, wenn er auch ein Schwindler war; genau in der abgemachten Woche traf er in der als Stelldichein bestimmten Bucht wieder ein, und zehn Wochen später fuhr der Walfischfänger die Themse hinauf. – Das Geheimnis war so gut gewahrt worden, daß nicht einer von der Mannschaft wußte, was man eigentlich an Bord hatte; still und ohne Aufsehen hatte man in der Zwischenzeit im Museum einen besonderen Raum für den kostbaren Fund herrichten lassen. Dort sollte er ruhig einige dreißig Jahre ruhen, ohne daß außer den Allerintimsten des Museums auch nur ein Mensch wußte, welch neuen Schatz London beherbergte. Nach dreißig Jahren – nun, da konnte man ihn der Welt schon zeigen, da waren die Leute tot, die heute verantwortlich waren, da würden keine Komplikationen mit den Russen mehr erfolgen. In dreißig Jahren, pah, da war vielleicht aus dem kleinen Diebstahl eine Argonautenfahrt nach dem goldenen Vlies geworden!
So kalkulierte die Verwaltung des Schatzhauses der Welt, und die Rechnung wäre sicher richtig gewesen, wenn nicht unser Freund John Hamilton Llewellyn einen dicken Strich da durch gemacht hätte.
Er gehörte zu den wenigen Sterblichen, die gewürdigt waren, der asiatischen Prinzessin auf englischem Boden den Willkommgruß zu bieten; denn, um nur gleich mit der Sprache herauszurücken: Die geheimnisvolle Sendung enthielt nichts anderes als einen mächtigen Eisblock, in dem seit vielen tausend Jahren vollkommen unversehrt ein nacktes junges Weib stak. Die Dame ist da auf diesselbe Weise hineingekommen, wie ihr Zeitgenosse, das Mammut im Petersburger Museum. Wie? – Nun, das ist nicht so leicht zu sagen; schon über das Mammut haben sich viele große Gelehrte den Kopf zerbrochen, und bei unserem Fund lag die Sache noch schwieriger.
Das Gemach, das der jungen Dame als zukünftiger Wohnraum zugewiesen war, war sehr merkwürdig. Es lag im zweiten Keller und war acht Meter hoch, zwanzig Meter breit und ebenso lang. Längs der Wände standen vier Ammoniakeismaschinen, die jedoch verdeckt waren von hohen, bis in die halbe Decke hinüberragenden Eiswänden. Man hatte für den seltenen Besuch aus dem Norden etwas übriges tun wollen und den unterirdischen Saal, in dessen Mitte der Eisblock gesetzt wurde, in einen wahren Eispalast verwandelt, dessen Temperatur dank der Maschinen auf einige Zentigrade unter dem Gefrierpunkt gehalten wurde. Eine platte Eisdecke bildete den Boden, von dem hier und da Eissäulen aufragten, die zum Teil die mit starren Eiszapfen besäte Decke trugen. Geschickt angebrachte elektrische Birnen erleuchteten diesen Winterpalast.
In das Gemach führte eine einzige, luftdicht schließende, schwere eiserne Doppeltür, die von innen durch einen Eisblock verdeckt war. Nach außen hin öffnete sie sich zu einem behaglich eingerichteten Vorgemach, in dem die Besucher sich an einem lustig prasselnden Kaminfeuer wieder die Hände wärmen konnten. Smyrnateppiche, ein türkischer Diwan, bequeme Schaukelstühle – alles war hier ebenso gemütlich, wie es da drinnen ungemütlich war.
Die Schöne war also glücklich in ihrem Eispalast geborgen, der Russe hatte sein Geld bekommen und war abgereist; die erste Aufregung über den seltenen Schatz hatte sich langsam wieder gelegt.
Zwei würdige Herren waren die beiden einzigen regelmäßigen Besucher des Eispalastes: ein Londoner Anthropologe und sein Kollege, ein Edinburgher Professor. Sie nahmen Messungen vor, oder wenigstens versuchten sie das, so gut man eben etwas messen kann, das in einem Eisblock von zwölf Kubikmetern eingeschlossen ist. Der Edinburgher Herr, Jonathan Honeycock, war einen Monat lang in Petersburg gewesen, um dort das Mammut zu studieren; er gab unserer jungen Dame dasselbe Alter wie diesem, nämlich zwanzigtausend Jahre. Stein und Bein schwor er darauf, daß beide in ein und derselben Stunde kaltgestellt worden seien. Diese Hypothese unterstützte Aksakows Bericht, demzufolge die beiden Fundstellen keine Büchsenschußweite voneinander lagen, beide nach seiner Behauptung in dem alten Bette der Beresowka. Leider fand er durchaus nicht den Beifall seines Londoner Kollegen, des braven Herrn Pennyfeather, M. A., K. C. B. Dieser behauptete, die Tatsache, daß die Fundstellen so nahe beieinander lägen, sei eine rein zufällige. Die junge Dame sei wenigstens dreitausend Jahre jünger als das Mammut, wie ihr ganzes Äußeres bewiese. Die menschlichen Zeitgenossen des Mammuts hätten ganz anders ausgesehen. Er legte seinen Kollegen eine Anzahl von Abbildungen vor, die solche Menschen darstellten. Und in der Tat, unsere Prinzessin sah ganz anders aus. Bei den Akten befinden sich eine Reihe von Zeichnungen und eine große Studie von Llewellyns Hand, und der war der einzige, der sie ohne ihre Eishülle sah. Milchweiß, mit einem reinen Pfirsichteint, tiefen blauen Augen und blondem Gelock, ein Körper, der dem Praxiteles als Modell hätte dienen können. – Pennyfeather hatte ganz recht: Das war etwas anderes als die starkkiefrigen, schlitzäugigen Urzeitweiber auf jenen Abbildungen. Er kam aber schlecht an bei dem Edinburgher. Wer habe denn diese Zeichnungen gemacht? fragte jener. Jedenfalls Leute, die nie ein solches Wesen zu Gesicht bekommen hätten. Elende Schulfuchser, die mit Zuhilfenahme von Affenhäusern und einer unästhetischen Phantasie solche Fratzen in die Welt gesetzt hätten. Er, Honeycock, erkläre, dies sei das Weib der Urzeit, und die Verleger täten nichts Besseres, als sofort aus allen anthropologischen Werken jene dummen Greuelbilder herauszureißen. Worauf Pennyfeather sagte, Honeycock sei ein Esel. Worauf Honeycock Pennyfeather eine Ohrfeige gab. Worauf Pennyfeather Honeycock in den Bauch boxte. Worauf Honeycock Pennyfeather verklagte. Worauf Pennyfeather Honeycock wieder verklagte. Worauf der Richter Honeycock sowohl wie Pennyfeather zu je zehn Pfund verurteilte und die Direktion des Britischen Museums Pennyfeather sowohl wie Honeycock ihre Türen verschloß.
Nach dieser kleinen Episode hatte die sibirische Jungfrau für einige Zeit Ruhe vor zudringlichen Besuchern. Dann aber kam einer, dessen Besuch für sie ebenso verhängnisvoll werden sollte wie für ihn selbst.
Ich sagte dir schon, daß John Hamilton einer der wenigen war, die bei dem Einzuge der Eisprinzessin zugegen waren. Bei dieser Gelegenheit waren von ihr einige fotografische Aufnahmen gemacht worden, die aber mehr oder weniger alle mißglückten, da der Eispanzer durch seine eigentümliche Strahlenbrechung solche Verzeichnungen und Verzerrungen auf der Platte hervorrief, daß die junge Dame aussah wie in einem Lachspiegelkabinett. So war Llewellyn gebeten worden, doch zu versuchen, eine Zeichnung von ihr zu machen. Selbst sehr interessiert, kam er dem Wunsche gern nach und zeichnete zu verschiedenen Malen in Gegenwart von Museumsbeamten in dem Eispalast. In der Tat ist es Llewellyn gelungen, von einer Seite einen besonders günstigen Blick auf die spröde Schöne zu erwischen, denn diese Blätter sind ganz außerordentlich scharf und klar.
Während dieser Sitzungen nun muß etwas Seltsames in Hamilton vorgegangen sein. Die Beamten gaben später bei der Vernehmung an, daß sie anfänglich nichts Besonderes wahrgenommen hätten, dagegen sei es ihnen bei den letzten Sitzungen aufgefallen, daß der Maler minutenlang, ohne einen Strich zu zeichnen, auf die Eisprinzessin gestarrt habe. Auch habe er, als er vor Kälte den Stift kaum mehr habe festhalten können, sich nicht bewegen lassen, aufzuhören, sondern mit großer Willenskraft seine Zeichnung beendet. Endlich habe er bei den letzten Sitzungen die Beamten aufgefordert, ja geradezu genötigt, in das Vorzimmer zu gehen. Sie hätten zuerst nichts Auffälliges darin gefunden und es lediglich als eine übertriebene Liebenswürdigkeit des Malers betrachtet, der ihnen statt des unheimlich kalten Eispalastes das behaglich erwärmte Vorzimmer anempfahl. Schließlich sei es ihnen aber doch merkwürdig vorgekommen, da der Maler ihnen übermäßig hohe Trinkgelder gab, damit sie ihn allein ließen. Ein paarmal hätten sie vom Vorzimmer aus im Eissaale sprechen gehört und dabei die Stimme Llewellyns erkannt.
Etwa um dieselbe Zeit erhielt der Direktor Llewellyns Besuch. Dieser bat ihn um die Schlüssel zu den Gemächern der Eisprinzessin. Er wolle ein größeres Bild von ihr anfertigen und dazu jederzeit freien Zutritt haben. Unter anderen Umständen würde seiner Bitte gewiß willfahrt worden sein, da ja Llewellyn in das Geheimnis schon eingeweiht war; aber das Benehmen des Malers bei diesem Besuch, die ganze Art, wie er sein Anliegen vorbrachte, war so seltsam, daß der Direktor Argwohn schöpfte und ihm höflich, aber bestimmt seine Bitte abschlug. Bei dieser Absage sprang der Maler auf, zitterte heftig, stotterte einige unzusammenhängende Worte und stürzte hinaus. Natürlich bestärkte dieses Benehmen den Argwohn des Direktors noch mehr; er erließ an alle Beamten des Museums den strengen Befehl, von nun an keinen Menschen mehr ohne seine besondere schriftliche Erlaubnis in die unterirdischen Räume einzulassen.
Nach einiger Zeit ging im Museum das Gerücht, daß jemand den Versuch gemacht habe, einige Beamte zu bestechen, um in das Eisgewölbe zu gelangen. Der Direktor hörte davon, er ließ die Sache streng untersuchen. Siehe da, der Herr war niemand anders als unser Freund John Hamilton. Der Direktor begab sich zu ihm in den Sitzungssaal, in dem er malte, er fand ihn auf einem Schemel hockend, das Gesicht in den Händen vergraben. Zur Rede gestellt, bat er den Direktor sehr höflich, aus diesem Zimmer, in dem er augenblicklich Hausherrnrechte habe, so bald wie möglich hinauszugehen. Der Direktor ging achselzuckend fort. Er ließ nun drei Kunstschlösser an die Tür des Vorzimmers legen und die Schlüssel im Geldschrank seines Privatzimmers aufbewahren.
Einige Monate lang war alles ruhig. Jede Woche zweimal stattete der Direktor selbst in Begleitung der Beamten, die die Eismaschine nachzusehen hatten, den Wohnräumen der verzauberten Schönen einen Besuch ab – den einzigen, den sie erhielt. Llewellyn kam Tag für Tag in den Sitzungssaal, in dem er malte, aber er arbeitete nichts mehr, die Farben trockneten auf der Palette, und die Pinsel lagen ungewaschen auf dem Tisch. Manchmal saß er stundenlang auf dem Schemel, dann wieder rannte er unaufhörlich mit großen Schritten im Saale auf und ab. – Die Untersuchung hat mit ziemlicher Sicherheit festgestellt, was er in dieser Zeit getrieben hat. Auffällig sind nur einige Besuche, die er bekannten Londoner Geldverleihern gemacht hat. Er versuchte, übrigens ohne Erfolg, auf die recht ferne Aussicht einer größeren Erbschaft hin zehntausend Pfund zu borgen. Fünfhundert erhielt er schließlich gegen hohe Zinsen bei Helpless und Neckripper in der Oxfordstraße.
Eines Abends erschien Hamilton nach langer Pause wieder einmal im Club, wie ich später festgestellt habe, an demselben Tage, an dem er das Geld bekommen hatte. Er begrüßte mich kurz im Lesezimmer und fragte, ob Lord Illingworth da sei. Illingworth, wie du wohl weißt, ist die wildeste Spielratze in allen drei Königreichen.
Als Llewellyn hörte, daß der Lord wohl erst spät abends kommen würde, nahm er meine Einladung zum Abendessen an, war aber dabei so schweigsam, daß es mir und den anderen, die mit uns speisten, auffiel. Später plauderten wir im Jagdzimmer; Llewellyn war dabei so nervös, daß er ordentlich ansteckend wirkte. Immerfort sah er nach der Tür und trank einen Whisky nach dem anderen. Gegen zwölf Uhr sprang er auf und lief Illingworth entgegen, der gerade eintrat.
›Sie sind mir noch Revanche schuldig!‹ rief er ihm zu. ›Wollen Sie heute mit mir spielen?‹
›Aber gewiß!‹ lachte der Lord. ›Wer hält mit?‹
Standerton war natürlich dabei, auch Crawford und Bodley. Wir gingen ins Spielzimmer. Während der Diener die Karten zum Poker brachte, fragte Illingworth:
›Nun, wieviel wollen Sie heute verlieren, Hamilton?‹
›Tausend Pfund in bar und das, wofür ich Ihnen gut bin‹, antwortete der Maler und zog die Noten aus der Brieftasche. Er hatte augenscheinlich außer dem Geld des Wucherers noch alles mitgebracht, was er besaß.
›Du bist verrückt, Junge! In deiner Lage spielt man nicht so hoch!‹
Unwillig drehte sich Llewellyn zur Seite.
›Laß mich in Ruh', ich weiß, was ich will! Entweder gewinne ich heute zehntausend Pfund, oder ich verspiele, was ich habe!‹
›Viel Glück!‹ lachte Illingworth. ›Wollen Sie mischen, Crawford?‹
Und das Spiel begann ...
Hamilton spielte wie ein Kind. In dreiviertel Stunden hatte er sein Geld bis auf die letzte Krone verloren. Er bat Bodley um hundert Pfund, die dieser ihm nicht gut abschlagen konnte, da er fast alles gewonnen hatte. Llewellyn spielte weiter und war in einer Viertelstunde wieder zu Ende. Diesmal wollte er von mir Geld haben. Ich gab ihm nichts, da ich sicher war, daß er doch alles verspielen würde. Er bettelte und flehte mich an, aber ich blieb standhaft. Er ging zum Spieltisch zurück, sah noch einen Augenblick zu, winkte mit der Hand und ging hinaus.
Da mich das Spiel nicht weiter interessierte, ging ich ins Lesezimmer. Ich las noch ein paar Zeitungen, dann stand ich auf, um nach Hause zu gehen. Während mir der Diener in den Mantel half, stürzte Llewellyn in die Garderobe und warf seinen Hut auf den Haken. Er bemerkte mich und fragte:
›Spielt man drinnen noch?‹
›Ich weiß nicht‹, rief ich.
Er hatte kaum zugehört, war mit langen Schritten ins Spielzimmer geeilt. Ich zog meinen Mantel wieder aus und ging ihm nach. Hamilton saß schon am Spieltisch, vor ihm lagen etwa zweihundert Pfund. Wie ich später erfuhr, war er zum Royal-Jacht-Club gefahren, wo er sich das Geld bis zum nächsten Tage von Lord Henderson geliehen hatte.
Diesmal spielte er mit ziemlichem Glück, da aber die Einsätze verhältnismäßig niedrig waren, so hatte er doch im Verlaufe einer Stunde noch kaum tausend Pfund vor sich. Er zählte ein über das andere Mal die Scheine durch und brummte ein paar Flüche vor sich hin.
Lord Illingworth lachte. Sein sprichwörtliches Glück beim Spiel kommt daher, daß er meist der kapitalkräftigste Spieler ist; mit achtzigtausend Pfund Renten im Jahr ist er allen anderen im Klub weit überlegen.
›Sie wollen mit Gewalt heute reich werden, Llewellyn!‹ sagte er. ›Poker dauert Ihnen zu lange, wollen wir Bac spielen?‹
Der Maler sah ihn so dankbar an, als ob ihm der Lord das Leben gerettet habe. Crawford steigerte die Bank, und das Baccarat fing an. Durch Hamilton angefeuert, war der Lord auch allmählich warm geworden, die Einsätze wurden höher und höher.
›Es ist nicht gerade nett, immer wieder sein Geld durchzuzählen‹, brummte Bodley.
›Ich weiß‹, antwortete Hamilton bescheiden wie ein Schuljunge, ›aber ich muß es tun.‹ Und er zählte hastig weiter. – Er verlor und gewann, einmal hatte er wohl achttausend Pfund zusammen. Da die anderen in bescheidenen Grenzen blieben, spitzte sich schließlich das Spiel zu einem Duell zwischen dem Maler und Lord Illingworth zu, der inzwischen die Bank übernommen hatte.
Hamilton überzählte wieder einmal sein Geld, er hatte gerade ein paar hohe Schläge gewonnen.
›Noch fünfzig Pfund!‹ murmelte er.
Aber er gewann die fünfzig Pfund nicht. Eine Karte nach der anderen schlug für seinen Gegner, und bald war er wieder kahl wie eine Ratte.
Das Spiel wurde aufgehoben, und die Herren gingen hinaus. Nur Llewellyn blieb sitzen. Er starrte auf die Karten, die verstreut auf dem Tische lagen, und trommelte nervös auf seinem Zigarettenetui. Plötzlich kam der Lord wieder zurück und klopfte ihm auf die Schulter. Hamilton fuhr auf.
›Sie brauchen zehntausend Pfund für irgendeinen Zweck?‹
›Das geht Sie nichts an!‹
›Nicht so schroff, junger Mann!‹ lachte der Lord. ›Ich kaufe für den Preis Ihr Bild, das ich letzten Sommer in Paris auf dem Marsfeld sah. Hier ist das Geld!‹
Er zählte die Noten der Bank von England langsam auf den Tisch. Llewellyn griff danach, aber der Lord hielt die Hand darauf.
›Nicht so schnell, ich stelle eine Bedingung! Ich verlange Ihr Ehrenwort, daß Sie nie wieder spielen.‹
›Nie wieder!‹ rief der Maler und streckte dem Lord seine rechte Hand hin.
Er hat sein Wort gehalten wie das, das er Henderson gab, dem er am Morgen sein Geld zurücksandte.
Zwei Tage später befand ich mich in der unangenehmen Notwendigkeit, auf einen Aktendeckel schreiben zu müssen:
Contra
John Hamilton Llewellyn und Genossen
Die Untersuchung wurde von der Verwaltung des Britischen Museums beantragt. Außer gegen unseren Freund richtete sie sich gegen einen Modellsteher und einen unteren Museumsbeamten. Diesen erwischte man sogleich, während es dem anderen, einem dutzendmal vorbestraften, mit allen Hunden gehetzten Jungen gelang, sich davonzumachen. Der Beamte legte ein volles Geständnis ab. Er war mit zweitausend Pfund, die er übrigens wohlweislich in Sicherheit gebracht hatte, von Llewellyn bestochen worden, während seiner Nachtwache die Augen zuzudrücken. Er hatte sich erst dazu bereit gefunden, nachdem der Maler ihm auf das Testament geschworen hatte, daß nichts gestohlen werden würde. Gegen neun Uhr abends sei der Maler mit einem anderen Manne, den er Jack nannte, zum Museum gekommen, er habe ihnen geöffnet, und sie seien zum Direktionsbureau gegangen. Die Tür habe der besagte Jack mit einem Nachschlüssel geöffnet, dann habe er eine große Menge von Schlüsseln und Drückern aus der Tasche geholt und versucht, den Geldschrank zu öffnen. Dies sei ohne viele Mühe gelungen, da der Schrank von einem sehr alten, mangelhaften System war. Aus dem Schrank habe der Maler nur Schlüssel herausgenommen; dann sei er wieder geschlossen worden.
Nun seien alle drei zum Keller hinuntergegangen, hätten dort die kunstvollen Schlösser des Eispalastes geöffnet und seien in das Vorzimmer getreten. Der Maler habe ihm befohlen, Feuer im Kamin anzulegen, und bald sei eine behagliche Wärme im Räume gewesen; währenddessen habe Jack einen Malkasten und eine zusammengeklappte Staffelei, die er mitgebracht hatte, hingestellt. Dann habe der Maler ihm das versprochene Geld gegeben und dem Jack noch viel mehr Geld; wieviel, wisse er nicht. Jedenfalls war es der Rest von Lord Illingworths Summe, denn bei Hamilton fand man keinen Schilling mehr vor. – Der Maler befahl dann den beiden, ihn allein zu lassen, sie gingen hinaus, und er schloß die Tür von innen ab. Die beiden Kumpane gingen in die Portierloge und tranken auf ihren guten Verdienst ein paar Glas Grog. Der Modellsteher empfahl sich schließlich, und der Beamte schlief den Schlaf des Gerechten, bis er um sechs Uhr morgens abgelöst wurde. Er ging nach Hause, schlief noch ein paar Stunden und überlegte sich dann ganz ruhig, was nun zu tun sei. Herauskommen würde ja die Geschichte ganz sicher, früher oder später. Fortgejagt würde er also auch ganz sicher. Aber sonst? Er hatte ja nichts getan, was ihn mit dem Gesetz in Konflikt bringen könnte; gestohlen war gewiß nichts worden, dafür bürgte ihm der heilige Schwur des Malers. Für alle Fälle brachte er vorher sein Geld in Sicherheit, dann setzte er sich hin und schrieb ganz gemütlich einen Brief an die Verwaltung, in dem er alles nett auseinandersetzte. Dieses Schreiben trug er selbst zum Britischen Museum. Das war nachmittags um fünf Uhr; der Direktor war gerade im Begriff, nach Hause zu gehen. Er las den Brief, überzeugte sich in dem Geldschrank von dem Verlust der Schlüssel und stürzte mit ein paar Beamten zu dem Keller hinunter, um zu sehen, was geschehen sei. Aber die Eisentür mit den kunstvollen Schlössern widerstand. Der Direktor ließ Schlosser holen und schickte inzwischen auch zur Polizei. Nach vierstündiger Arbeit gelang es ihnen mit Brecheisen und Schmiedehämmern, die ganze Tür herauszuheben, sie fiel krachend in das Vorzimmer; man stürmte hinein. Ein entsetzlicher Dunst schlug ihnen entgegen, der alle im ersten Augenblick wie betäubt zurückweichen ließ. Der Direktor hielt sich mit dem Taschentuch Mund und Nase zu, lief dann durch das Vorzimmer in den Eispalast, gefolgt von den anderen. Der Eisblock war in der Mitte quer durchgespalten, seine Bewohnerin – verschwunden.
Da ertönte aus einer Ecke ein klägliches Wimmern, in dem man kaum eine menschliche Stimme erkennen konnte. Fest eingekeilt zwischen dem Eise, fast erfroren, mit dunklem, geronnenen Blute an Gesicht und Händen, in Hemdärmeln und zerfetzten Kleidern, stak John Hamilton Llewellyn. Die Augen stierten ihm aus den Höhlen, und zwischen den Zähnen tropfte der Schaum heraus. Nur mit Mühe konnte man ihn aus dem Eise hervorzerren, auf alle Fragen hatte er nur ein verständnisloses Lallen. Als man ihn durch das Vorzimmer hinausschaffen wollte, schrie er wie besessen und sträubte sich mit Händen und Füßen. Vier Mann mußten ihn aufnehmen, aber als sie in die Nähe der Tür kamen, riß er sich mit furchtbarem Gebrüll wieder los und stürzte in die entfernteste Ecke. Eine wahnsinnige Angst vor dem Vorzimmer gab dem halb erfrorenen, fast leblos steifen Körper eine solche Kraft, daß den Schutzleuten nicht weiter übrigblieb, als ihn an Händen und Füßen zu fesseln und wie einen Klotz hinauszutragen. Und selbst da noch riß er sich mit einem schrecklichen Schrei vor der Tür los und fiel zu Boden. Sein Kopf schlug hart auf das Eis; er verlor das Bewußtsein.
Nur so konnte er in das Krankenhaus geschafft werden und von dort vier Monate später in die Krankenabteilung des Irrenhauses zu Brighton. Ich habe ihn einmal dort besucht, er sah jämmerlich aus. Beide Ohren und vier Finger der linken Hand sind ihm abgefroren, ein entsetzlicher, röchelnder Husten, der alle Viertelstunden den ganzen Körper erschüttert, zeigt an, daß er sich während jener schrecklichen Nacht im Eispalast auch die Schwindsucht geholt hat, der er hoffentlich bald erliegen wird. Die Sprache hat er nicht wiedererlangt, ebensowenig hat er auch nur einen lichten Moment gehabt. Ein furchtbarer Verfolgungswahn quält ihn Tag und Nacht, so daß er nicht einen Augenblick ohne Aufsicht sein kann.
Was aber ist in jener Nacht in den Gewölben des Britischen Museums vorgegangen?
Ich habe mir redliche Mühe gegeben, alle, selbst die unscheinbarsten Momente zusammenzutragen, um ein klares Bild zu gewinnen; ich habe seine Mappen und Fächer durchsucht, hier gab eine Zeichnung, dort eine Zeile mir Aufschluß über seine Träume. – Natürlich beruht auch so noch vieles auf Vermutung, aber ich glaube, nicht zu viele Trugschlüsse gemacht zu haben. John Hamilton Llewellyn war ein Phantast. Oder ein Philosoph, was dasselbe ist. Vor Jahren traf ich ihn eines Abends auf der Straße, wie er gerade in ein Auto sprang. Er fuhr zur Sternwarte, und ich begleitete ihn. Er war dort gut bekannt und seit seiner Knabenzeit häufiger Gast. Und wie bei allen Astronomen, verschoben sich auch bei ihm die Begriffe von Zeit und Raum. Der Astronom sieht in einer Sekunde einen Stern viele tausend Millionen Meilen durchfliegen, die ungeheuren Größen, mit denen er rechnet, müssen ihm den Sinn für den jämmerlich winzigen Horizont unseres Erdenlebens völlig abstumpfen. Ist aber der Sternbeschauer noch dazu ein Künstler von der Begabung und der Phantasie, wie Hamilton sie besaß, so muß sich der Kampf seiner Seele mit dem Stoff zu einem ungeheuren Ringen auswachsen. – Nur von diesem Standpunkt aus wirst du, wenn du seinen Nachlaß, den Bodley erworben hat, durchsuchst, seine merkwürdigen Kartons verstehen können. – So war Hamilton durchs Leben gegangen, stets den Alpdruck der Unendlichkeit auf der Brust. Sekundenstaub erschien ihm alles, der Dreck in der Pfütze sowohl wie das schönste Menschenbild aus Fleisch und Blut. Und dieser Gedanke war es auch, der ihn stets vor der Liebe bewahrte, obwohl mehr als eine schöne Frau dem blonden, traumäugigen Maler sich wie auf einem Teebrett anbot. ›Bitte!‹ Aber Hamilton, sagte: ›Danke!‹ und träumte weiter.

Um ihn zu erobern, mußte das Unwahrscheinlichste wahr werden, mußte eine Schönheit kommen, die so sehr über Zeit und Raum erhaben war wie er selber. Und dieses Unmögliche wurde wahr: Der suchende Ritter fand mitten in dem nebligen, stinkenden London – Dornröschen, die verzauberte Prinzessin. Was denn? Eine schöne, junge Frau, die vor vieltausend Jahren irgendwo in Sibirien geatmet hatte, kam, so wie sie war, zu ihm nach London, um ihm Modell zu stehen. Es war, als ob sie auf ihn blicke, zärtlich und lang. Was wollte sie denn nur? Ja, sie hatte sich über eine gewaltige Zeitspanne hinweggesetzt, um ihn zu finden, wie Dornröschen in ihren Rosen war diese sibirische Prinzessin im Eise eingeschlafen, um auf ihren einzigen Ritter zu warten.
›Aber sie ist ja tot‹, sagte er sich. Nun, was soll das? Wenn sie auch tot ist, sollte er sie darum nicht lieben können? Pygmalion liebte eine Statue, der seine Liebe Leben einhauchte, und Jesu Menschenliebe schenkte Jairis totem Töchterlein das Leben wieder! Wunder – ja –, aber war denn das Wunder, das vor ihm stand, ein weniger großes? Und dann – was ist tot? Ist die Erde tot, die rings Blumen hervortreibt? Ist der Stein tot, der Kristalle bildet? Oder der Wassertropfen, der am Fenster erfriert und Farn und Moos auf das Glas zaubert? – Es gibt keinen Tod!
Diese einzige Frau hatte die allmächtige Zeit besiegt, durch Tausende von Jahren hatte sie ihre Schönheit und Jugend bewahrt, Cäsar und Kleopatra und der große Napoleon, Michelangelo, Shakespeare und Goethe, die stärksten und größten Menschen aller Jahrhunderte sind von dem Fußtritt der Zeit zermalmt worden wie Würmer am Wege, aber diese schlanke Schönheit hatte der Zeit mit ihren weißen Händen ins Gesicht geschlagen und die große Mörderin zum Rückzuge gezwungen! – Der Maler träumte und bewunderte und – liebte.
Je öfter er in den Eispalast kam, um seine schöne Frau zu zeichnen, um so klarer malte sich in seiner Seele das Bild, das er schaffen wollte, das große Bild seines Lebens: Der Sieg der menschlichen Schönheit über die Unendlichkeit. Das war die Sendung dieser Frau, darum war sie zu ihm gekommen! So trieb sein träumender Geist die herrlichste Blüte, die nur in vielen Jahrhunderten einmal dem menschlichen Geschlechte beschert ist: Liebe und Kunst zu einem reinen, mächtigen Empfinden vereinigt.
Aber nicht so in ihrem Eisblock wollte er seine Liebe malen. Frei, lächelnd sollte sie auf einem Felsenbett ruhen, in der Hand eine leichte Gerte. Vor ihr die mörderische Zeit, ohnmächtig vor ihrer sieghaften Jugend. Und dieses Bild sollte den Menschen das Bewußtsein ihrer Göttlichkeit geben, das herrlichste Geschenk, das sie je empfangen hatten. Er, mit der überschäumenden Künstlerkraft in der Brust, und dieses herrliche Weib, das die Zeit besiegt, wollten das Ungeheure zuwege bringen.
So reifte in ihm der Gedanke, sie aus dem Eisblock zu befreien, und die Schwierigkeiten, die sich ihm entgegenstellten, spornten und stachelten ihn nur noch mehr an. Sein Faktotum Jack, eins von den Modellen, die alles machen, der einzige, zu dem er von seinem Plane sprach, wußte ihm diesen noch schwieriger und gefahrvoller darzustellen, um ihm schließlich die Idee einzublasen, daß er ihn und irgendeinen Museumsbeamten nur durch ungeheure Summen für das Vorhaben gewinnen könne. Daher all seine vergeblichen Versuche, bei den Wucherern Geld aufzutreiben. – Unterdessen war ihm durch den Direktor der weitere Besuch des Eispalastes unmöglich gemacht worden. Er brütete allein in seinem Saale, und sein Wunsch, die Geliebte zu befreien und mit ihr zusammen der Menschheit das Höchste zu schenken, wuchs in diesen einsamen Stunden ins Grenzenlose.
Dann kam die Nacht, in der er im Klub versuchte, mit den Karten in der Hand das Schicksal zu zwingen. Das Schicksal lachte ihn aus und nahm ihm alles ab, was er hatte. Aber wie eine schöne Frau, die allen Bewerbungen ihres Liebhabers widersteht, um ihm endlich, wenn er trostlos verzweifeln will, sich freiwillig zu schenken, lächelte ihm schließlich das Schicksal zu und gab ihm durch Lord Illingworths Hand das Geld, das er nötig zu haben glaubte. – Nun zögerte er keinen Augenblick mehr, schon die nächste Nacht wurde zur Ausführung des Planes bestimmt. Es traf sich gut, daß gerade der Beamte, den Jack gewonnen, die Wache hatte; die Schlüssel wurden geholt, der Eispalast erschlossen.
Er drehte im Vorzimmer von innen dreimal die Schlüssel ab; so, nun war er allein. Er blieb stehen, lauschte, wie die Schritte der beiden sich in den Gängen verloren. Tapp, tapp – tapp –, nun hörte er nichts mehr. Er schöpfte tief Atem, dann entschloß er sich und ging mit raschen Schritten in den Eispalast.
Ah, da war sie! Warum sprang sie nicht heraus aus dem Eise, ihm entgegen? Aber ihre Augen schienen ihn anzusehn und nun – war es nicht, als ob auch ihre Hand ihm winke? Er griff in die Brusttasche und nahm ein kurzes, unten spitz zugeschliffenes Handbeil heraus.
Er ging an die Arbeit, die mit dem unvollkommenen Instrument keine leichte war. Mit unendlicher Vorsicht und Liebe schlug er seinen Weg, unsäglich langsam kam er weiter. Aber es war, als ob ihn die Schöne von Zeit zu Zeit ermunternd anschaue.
›Nur Geduld, Liebster, bald lieg' ich in deinen Armen!‹
Krachend brach nach allen Seiten das Eis herunter. Noch ein leiser Schlag und noch einer und noch einer! Er fürchtete einen Augenblick, daß vielleicht im Kopfhaar und an den kleinen Härchen der Haut das Eis festkleben möchte. Aber nein, der Körper war mit einem feinen, wohlriechenden Öle gesalbt, so daß er sie glatt und unverletzt von ihrem Eisbett aufheben konnte. Seine Arme zitterten, sein ganzer Körper schlotterte vor Kälte. Rasch trug er sie auf seinen Armen hinaus, in das warme, entzückend behagliche Vorzimmer, wo die rote Flamme im Kamine ein seltsames Liedchen summte. Leise, ganz sachte legte er sie auf den Diwan; ihre Augenlider waren gesunken, sie schien zu schlafen.
Nun den Keilrahmen her, die Staffelei zurechtgerückt und Farben heraus! Er malte mit einem Eifer, einer Begeisterung – so hatte noch nie ein Maler vor seinem Bilde gestanden! Die Stunden flogen dahin, es schienen ihm Sekunden zu sein. – Unterdessen leckte die mächtige Flamme im Kamin immer höher hinauf, es war eine schier unerträgliche Hitze in dem Raume. Dicke Schweißtropfen perlten von seiner Stirne, er warf seinen Rock ab und malte in Hemdsärmeln weiter.
Da – bewegte sich nicht ihr Mund? Er blickte genau hin – wirklich, sie schien die Unterlippe zu einem unmerklichen Lächeln zu verziehen. Hamilton fuhr sich mit der Hand über die Augen, um die Träume zu verscheuchen. Aber nun, was ist das? – Ihr Arm glitt langsam, ganz langsam herunter – sie winkte ihm? – Er warf die Pinsel fort und stürzte zum Diwan. Kniete nieder, ergriff die kleine, weiße Hand, auf der die feinen blauen Adern hervortraten. Sie ließ ihn ruhig gewähren. Und er drückte und preßte diese Hand, er hob sein Haupt und sah sie wieder an. Mit einem leisen Schrei warf er sich in ihre Arme, schloß die Augen, küßte ihre Wangen und den Mund und den Hals und ihre strahlenden, schneeweißen Brüste.
Und all seine lang verhaltene Liebe und all seine unendliche Sehnsucht nach Schönheit und Kunst küßte er auf den Busen dieses Weibes.
Aber diesem höchsten Augenblick folgte der entsetzlichste. Ein feuchter, ekelhafter Schleim floß ihm über das Gesicht. Er sprang auf, wich ein paar Schritte zurück. – Die Linien verwischten sich – was war das, was da auf dem Diwan lag? Ein widriger, unerträglicher Geruch drang auf ihn zu, der in den roten Flammen des Feuers Formen anzunehmen schien. Und aus dem zu schleimigen Gallert zerfließenden Leichnam stieg ihm ein entsetzliches Gespenst entgegen, das seine Polypenarme nach ihm ausstreckte: Die grausame Riesin Zeit rächte sich.
Er wollte entfliehen, rannte zur Türe – die Schlüssel, die Schlüssel! Er fand sie nicht, riß und zerrte an der Türe, zerkratzte sich die Hände, warf sich dann mit dem Gesicht dagegen, daß das Blut heruntertroff. – Das Eisen rührte sich nicht! Und immer mächtiger, immer gewaltiger wuchs das furchtbare Gespenst empor, schon fühlte er, wie seine saugenden Finger ihm in Nase und Mund drangen. Er schrie wie ein Besessener, rannte zu der anderen Türe, hinein in den Eispalast, wo er sich in jämmerlicher Todesangst in die äußerste Ecke drängte. Da fand man ihn: ein armes, wahnsinniges Menschlein, das einst geglaubt hatte, die Unendlichkeit mit Füßen treten zu können!«

5. Kapitel

Eileen Carter
Nun, denke ich, bin ich endlich fertig mit dieser Frau. Nie wird etwas sein zwischen ihr und mir, das weiß ich seit vielen Jahren nun. Nur: manchmal vergaß ich es, träumte herum, dachte: einmal wird sie dennoch kommen.
Nie wird sie kommen. Sie, Eileen Carter, aus Woonsocket, Rhode Island, Phil Carters einzige Tochter, die den ekelhaften Barett S. Rogers zum Manne nahm. Sich von ihm scheiden ließ, später Klaus Steckels aus Chikago heiratete mit all seinen Zuckermillionen. Eileen, die nach Steckels' Tode nicht lange Witwe blieb, sie, die heute Lady Brougham heißt, Marchioness von Atwood. Nie wird sie zu mir kommen – und wenn die Hölle zufriert, Eileen wird nicht kommen.

Ich spielte Poker gestern nacht und verlor. Warum spielte ich? Seit manchen Jahren habe ich keine Karte angerührt. Warum bin ich überhaupt in Cannes? Cannes ist mir zuwider wie die ganze Riviera mitsamt ihrem Publikum. Und was das Pokern anbetrifft, so mache ich mir nicht mehr viel draus. Dennoch bin ich in Cannes, dennoch saß ich am Pokertisch gestern nacht.
Das Spiel langweilte mich, ich spielte unaufmerksam und verlor natürlich. Blieb am Tisch nur der Gesellschaft wegen, konnte nicht recht aufbrechen, weil einer fehlte. Dann kam der lange Brockdorff ins Spielzimmer, stellte sich hinter mich.
»Gib deine Karten!« sagte er nach einer Weile. »Du machst doch nur Unsinn heute – die Dame da bringt dir Pech!«
»Welche Dame?« fragte ich, suchte in meinen Karten.
»Da wirst du sie nicht finden!« lachte Brockdorff. »Schau hinüber in den Spiegel – die Dame dort, die dich anstarrt.«
Unser Tisch stand in der Ecke, ich saß mit dem Rücken zum Zimmer; um in den Spiegel zu sehn, mußte ich mich zurückbiegen. Nur ein Tisch im Saal war noch besetzt, da saßen englische Herrschaften beim Bridge. Zwei Herren und zwei Damen; ein weiteres Paar stand daneben. Während der Herr mit den Spielern plauderte, starrte die Dame ganz offensichtlich zu unserm Tisch herüber.
»Na, kennst du sie?« fragte Brockdorff.
»Ich weiß nicht«, zauderte ich. »Vielleicht –«
Aber die Karte zitterte in meiner Hand. Ich stand auf, gab meinen Platz an Brockdorff. Während ich mich verabschiedete, ging auch das Paar aus dem Spielsaal, die Dame mit einem letzten langen Blick, der ganz augenscheinlich mir galt. Ich schritt ihnen nach. Völlig war ich meiner Sache nicht sicher, ob ich gleich darauf gewettet hätte, daß es Eileen war. Die beiden gingen durch die Halle zur Kleiderabgabe; dort erreichte ich sie, konnte sie in nächster Nähe betrachten.
Sie trug ein Stilkleid – mauve mit silber. Rotblond die gelockten Haare und die großen Augen wie Amethyste so blau. Solch irische Augen konnte nur eine haben: Eileen Carter. Ihr Begleiter legte ihr den Chinchillamantel um die Schultern; da wandte sie sich, sah mich voll an.
Ich hob den Arm, ihr die Hand zu geben; meine Lippen formten ihren Namen. Aber ich sprach nichts, und die Rechte fiel wieder zurück. Sie stand vor mir, unbeweglich, hielt meinen Blick, Auge in Auge. Eine halbe Minute wohl, während der Herr Stock und Hut in Empfang nahm und die Kleiderfrau bezahlte. Dann wandte sie sich, nahm seinen Arm, schritt an mir vorbei.
Ich stutzte – hatte ich mich doch geirrt? Ich hörte, wie sie zu ihrem Begleiter sprach: sie wolle doch nicht mehr in den Park gehn; fühle sich müde, wolle in ihr Zimmer. Ihr Englisch hatte ganz ausgesprochen einen amerikanischen, neuenglischen Akzent.
Der Hoteldirektor kam vorbei, begrüßte mich. Ich hielt ihn fest, fragte ihn, wer die Herrschaften seien.
»Die da?« antwortete er. »Earl Brougham ist es. Marquess of Atwood. Seit langen Jahren kommt er her mit seiner Mutter – diesmal hat er auch seine Frau mitgebracht. Kürzlich erst verheiratet. Haben acht Zimmer – Sekretär, Kammerzofen, Chauffeur. Bestes vom Besten!«
»Ist die Lady Amerikanerin?« forschte ich. »Kennen Sie ihren früheren Namen?« Nein, davon wußte er nichts. Aber er würde mir's bald genug sagen können, das sei nicht schwer zu erfahren.
Ich saß lange im Lesezimmer herum, lief dann durch die Gassen. Kam zurück, setzte mich wieder an den Pokertisch. Ich spielte genauso unaufmerksam wie zuvor und gewann doch. Eine erstaunliche Strähne hatte ich: Drei Asse, Fullhands, Straights und Flushes – stundenlang. Rein ausgemistet waren die Ratzen am Tisch.

Ich frühstückte auf der Terrasse heute morgen, spät genug. Der Direktor kam, brachte mir seine Weisheit: Gewiß sei Lady Brougham Amerikanerin. Witwe des steinreichen Klaus Steckels aus Chikago, des Zuckermagnaten, und seine einzige Erbin. Auch die Broughams seien gewiß sehr begütert – aber so viele Dollarmillionen ...
Dann tat er geheimnisvoll – irgendwas sei vorgefallen diese Nacht im Hotel. Die Broughams seien heute früh plötzlich abgefahren; Lord, Lady, Dienerschaft, Autos – alles. Nur die Lady-Mutter sei zurückgeblieben mit ihrer Jungfer. Dann auch – und das sei auffallend – die Zofe der jungen Lady.
»Warum auffallend?« fragte ich.
Der Direktor sah mich scharf an, liebenswürdig wie immer, aber sehr beobachtend.
»Sehn Sie«, sagte er mit leichter Betonung, »in meiner Stellung muß man ein wenig Detektiv sein, muß manchmal alle möglichen Dinge argwöhnen, die bisweilen auf den einen oder andern unsrer Gäste ein schiefes Licht werfen könnten. Natürlich kann man sich irren –«
»Sie werden deutlich genug!« unterbrach ich ihn. »Aber da Sie ganz offensichtlich auf mich anspielen, so haben Sie wohl die Güte, sich etwas näher zu erklären.«
Der Mann verbeugte sich, während er an seinem schwarzen Schnurrbärtchen zupfte. Ein unmerkliches Lächeln flog über seine Lippen.
»Sehn Sie, lieber Herr«, fuhr er fort – jeden Satz begann er mit diesem: ›Sehn Sie‹ –, »ich sagte Ihnen schon, daß die Broughams seit vielen Jahren zu uns kommen; genau: seit achtzehn Jahren. Sie bleiben sechs bis acht Wochen und sind gute, sehr gute Gäste in jeder Beziehung. Sie glauben gar nicht, wieviel Engländer unser Haus bevorzugen, nur weil die Broughams hier absteigen. Da muß man einige Rücksicht nehmen –«
»Gewiß muß man Rücksicht nehmen«, bestätigte ich.
»Sehn Sie«, begann er wieder, »die Broughams kamen gestern abend aus Paris an, nachdem sie, wie stets, ihre Zimmer wochenlang vorausbestellt hatten. Sie fahren heute morgen ab – Hals über Kopf. Die alte Dame bleibt zurück – sie hat also gewiß nichts auszusetzen. Die jungen Herrschaften lassen sagen, daß sie vermutlich in einer Woche zurück sein würden – vermutlich! Es hinge noch von einem Umstand ab. Und sie lassen die Kammerzofe der jungen Lady zurück – also liegt dieser Umstand nicht an ihnen, sondern an unserm Hause. Es ist eben ein Hindernis im Hause – wenn dieses weggeräumt ist, kehren die Herrschaften zurück. Das soll die Zofe, die wohl das persönliche Vertrauen der Lady hat, beobachten; sie soll Nachricht geben – darum mußte sie zurückbleiben.«
Ich lachte auf. »Sie sind außerordentlich scharfsinnig, Herr Direktor; keine Lücke in Ihrer Logik! Vermutlich haben Sie die Zofe auch schon zur Rede gestellt?«
»Das habe ich getan«, nickte er, sichtlich geschmeichelt. »Sie wollte erst nicht mit der Sprache heraus; aber sie gab bei, als ich ihr den Grund der Abreise ihrer Herrschaft auf den Kopf zusagte und mein Zureden noch mit einem Goldstückchen unterstützte. Übrigens überschätzen Sie meine Kombinationsgabe, lieber Herr; es war wirklich nicht allzu schwer. Die Broughams haben außer mit einigen alten Bekannten gestern abend mit niemand gesprochen. Der einzige Gast, der sich nach ihnen erkundigte, waren Sie – Sie wußten, daß die Lady Amerikanerin sei.«
»Ich hörte es an ihrem Akzent«, erklärte ich.
»Gewiß, gewiß«, bestätigte der Direktor. »Aber ich sah an der Garderobe, wie Sie die Lady anstarrten und die Lady Sie. Natürlich kann ich mich irren – ich betonte das schon. Aber ich muß annehmen, daß Sie und die Lady einander früher gekannt haben und daß die Lady diese Bekanntschaft nicht zu erneuern wünscht. Das ist nur so mein Gedanke, und den sagte ich der Kammerjungfer natürlich nicht. Es ist auch gleichgültig und geht mich gar nichts an. Aber, sehen Sie, die Tatsache steht fest, daß Sie es sind, mein Herr, der die Herrschaften zur Abreise nötigte: sie werden zurückkehren, sobald Sie abgereist sind.«
Ich besann mich nicht lange. »Ich werde abreisen, Herr Direktor!«
Der Mann verbeugte sich, ein wenig tiefer als gewöhnlich und sehr befriedigt.
»Danke«, sagte er, »das erspart uns manche Verdrießlichkeiten. Wann gedenken Sie zu reisen?«
»Morgen oder übermorgen«, antwortete ich. »Ich muß den Herrn noch Revanche geben im Poker.«
»O bitte, lieber Herr«, schmunzelte der Direktor, »es hat gar keine Eile. Die Herrschaften sind nach Nizza, werden so nicht vor Montag zurück sein. Ich danke Ihnen herzlich für Ihr Entgegenkommen und bitte Sie vielmals um Verzeihung. Sie werden uns stets ein lieber und gerngesehener Gast sein; das Haus wird immer für Sie alles tun, was in seinen Kräften steht, wenn –«
»Nun, wenn?« unterbrach ich ihn.
»Wenn die Broughams nicht gerade bei uns sind«, schloß er.

Ich bin also regelrecht hinausgeworfen aus diesem Hotel: sehr liebenswürdig freilich – aber es ist gar keine Frage, daß dieser gerissene Hoteldirektor ganz andre Saiten aufgezogen hätte, wenn ich drauf bestanden hätte, zu bleiben. Nichts liegt an mir; ich bin ein gleichgültiger Gast, einer von vielen Tausenden, die nur nach Nummern zählen. Aber die Broughams – das ist ganz etwas andres!
Also Eileen Carter heißt Lady Brougham jetzt und ist Marchioness of Atwood. Und sie will mich so wenig kennen wie damals in Chikago in der Oper.
Das war vor drei Jahren; noch nicht lange war sie mit dem alten Klaus Steckels verheiratet. An dem Abend hatte Mary Garden die »Louise« gesungen; die Vorstellung war aus, und ich wartete unter dem Wetterdach mit ein paar Bekannten auf unser Auto. Plötzlich stand sie mit ihrem Gatten neben mir – sie wartete wie wir.
Wie gestern abend traf mich ihr Blick, wie gestern abend starrte sie mich an. Die englische, die amerikanische Dame grüßt zuerst – aber Eileen grüßte mich nicht. Ich senkte den Kopf ein wenig, machte den Versuch einer Verbeugung – sie grüßte nicht. Starrte mich an und grüßte nicht. Bis ihr Auto kam, bis sie mit dem breiten, stiernackigen Steckels in den Wagen stieg.
Wie dick sein Hals war und wie rot! Der Schlag mußte ihn treffen über kurz oder lang! Tat es auch.

Und wieder zwei Jahre früher, in New York. Das war, ehe der Zuckerkönig sich in Eileen so hoffnungslos verliebte. Sie war die schönste der Chordamen in »Ziegfelds Follies«; Elmer G. Warren hielt sie damals aus, einer der größten Gauner in Wallstreet. Ihr Tanzen war mäßig genug: Sie stand in der zweiten Reihe und verschwand hinter den Ponies, nur ihr herrlicher rotlockiger Kopf überragte die kleinen Mädel der vordem Reihe. Aber wenn sie, als letzte, bei der großen Pfauenschau die hohe Treppe herunterkam, dann hielten die Snobs den Atem an.
Acht Meter Schleppe rauschten hinter ihr, die die kleinsten Ponypagen trugen; aus der schwarzen Toilette mit Silberpailetten wuchs diese göttliche Brust hervor, dieser Hals und dieser stolze, hochmütige Kopf. Keine Dame konnte schreiten, wie Eileen schritt, keine Dame und keine Herzogin. Eine Königin war sie.
In »Ziegfelds Follies«.
Die Modehäuser trugen ihr die Pariser Modelle ins Haus, die Pelzhändler das herrlichste Rauchwerk. Was Eileen, einmal nur, trug, zwischen den Tischen herum beim Modetee im Ritz oder Plaza, das war das Doppelte wert am selben Abend. Aber sie wedelte nicht, drehte sich nicht wie die andern Mannequins, wiegte nichts und rollte nichts, stellte nichts zur Schau, weder Nacken noch Brüste, die Hüften nicht und nicht den Steiß. Keine kleine Einzelheit sah man bei ihr wie bei all den andern – nur das Ganze, nur diese blendende souveräne Erscheinung: Eileen.
Mannequin war sie damals, Showgirl bei Florenz Ziegfeld. War »Professional« dazu, eine, die aus einem Bett in das andre stieg und nun von Elmer G. Warren bezahlt wurde, der sie mit Brillanten behängte. Heute aber war sie Peeress von England: Weit offen standen ihr die Tore am Hofe des Heiligen Jakob, dem ersten der Welt.
Damals hatte Warren grade seinen großen Schwindel mit den Erie-Aktien gemacht, der Dutzende von Millionen aus den Taschen harmloser Narren heraus und in seine Tasche hineingeweht hatte. Sechs große alte Firmen waren dabei zugrunde gegangen, vierzehn Selbstmorde hatte es gegeben, Tausende von Sparern hatten ihren letzten Cent verloren. Die Zeitungen spien ihn an, Manhattan heulte von Bowling-Green bis hinauf zum Bronx. Vierzehn Tage lang durfte er sich in Wallstreet nicht sehen lassen – dann war alles wieder vergessen. Mittlerweile lachte Elmer und gab ein Fest in seinem Haus am Riverside-Drive.
Was er so ein Fest nannte. Zu Beginn gewählte Gesellschaft: kleine Schauspielerinnen, Tänzerinnen und Chormädel. Das fing an um Mitternacht: nach zwei Stunden war keiner mehr nüchtern. Am Morgen fuhr man hinaus nach Long Beach, trank weiter, kam wieder zurück – was müde war, legte sich zu Bett, aufs Sofa, oder lag einfach auf dem Boden in einer Ecke. Manche hatten genug, wankten nach Hause in der zweiten Nacht. Dafür kamen andre Gäste, die man irgendwo aufgetrieben hatte; statt der Herrn der Klubs sah man nun höchst zweifelhafte Gesellen, statt der Theaterdamen Ladenmädel, Kellnerinnen, Straßendirnen.
Drei Tage und vier Nächte dauerte der Zauber – Elmer G. Warren hielt durch.
In der ersten Nacht war ich da, kam aus dem Klub mit ein paar Bekannten gegen drei Uhr in Elmers Haus. Alles war betrunken, und es gab nur eins von beiden: entweder gleich gehn oder mitrasen, saufen und tüchtig nachholen.
Leb in Rom, wie die Römer leben!
Ich trank also, tanzte und brüllte. Erst nach einer Stunde bemerkte ich Eileen in dem wilden Trubel – sie war wüst wie all die Weiber. Sie kam auf mich zu, faßte meinen Arm. Wollte tanzen, besann sich dann, zog mich zur Bar, ließ sich schreiend eine Flasche Ayala geben, arbeitete an dem Korken, spritzte kreischend den Sekt ein paar Herren über den Frack. Warf sich in ein Sofa, schenkte die Gläser voll.
»Trink!« lallte sie.
Ich trank ihr zu: »Ihr Wohl, Eileen!«
Sie rührte mit dem Goldquirl in ihrer flachen Schale, schwatzte dazu albernes Zeug, von diesem Mädchen und jenem: Theaterklatsch, Dirnengeschwätz.
Dann hob sie ihr Glas, setzte es an die Lippen, mir zuzutrinken. Aber sie trank keinen Tropfen. Langsam sank die Schale zurück auf den Tisch; schlaff fiel ihr der Arm in den Schoß. Sie wollte lachen – aber ihr Lachen starb, ehe es noch geboren war.
Sie hob die Augen zu mir, ihre wundervollen Amethystaugen: Sie starrte mich an, wie sie das gestern tat und damals in Chikago in der Oper. Ein Zucken ging durch ihren Körper: Sie straffte sich, griff ein Kissen, grub beide Hände hinein. Ich hatte das Empfinden, als ob sie nüchtern würde, mit ungeheurer Willensanstrengung, plötzlich, ohne Übergang. Und das übertrug sich – mein rascher Rausch verflog im Augenblick.
Ich fühlte: sie will etwas von mir. Und: es ist Ernst.
Ich nahm ihre Hand. »Eileen«, begann ich.
Sofort zog sie ihre Hand weg. Wartete eine Weile, starrte mich an, schweigend.
Dann sagte sie, leise, trostlos fast: »Geh!«
Stand auf, wandte sich nicht, schritt aus dem Raum.

Ich sitze in Cannes in meinem Zimmer – in diesem Hotel, das mir widerlich ist. Ich denke an diese Frau, die – dreimal im Leben – mir deutlich genug zu verstehen gab, daß sie mir nicht mehr begegnen will.
Dreimal – und es war jedesmal auf ein Haar dasselbe. Sie starrte mich an, zog mich hin zu sich, ließ mich dann stehn wie einen Fremden, den sie nie gesehn. Gewiß, in Elmer G. Warrens Haus sprach sie zu mir – doch da war sie trunken. Und als sie nüchtern war, war kein Wort mehr für mich auf ihren Lippen. Nur die eine Silbe: »Geh!«
Still, leidenschaftslos klang dies: »Geh!« – In ihrer Haltung, alle dreimal, lag kein Haß, kein Zorn, keine Verachtung und sicherlich keine Furcht.
Ihr Blick – was sagte ihr Blick?
Eines gewiß – daß sie sich gut erinnerte an das, was geschehn war zwischen uns. All das, was ich tat für sie und mit ihr. Aber konnte diese Erinnerung ihr ein Recht geben – was Recht, nur die leiseste Veranlassung –, mich jetzt zu kennen und dennoch nicht zu kennen?
Ich begehrte diese Frau, träumte von ihr. Vom Augenblick an, als ich zuerst sie sah – und durch zehn lange Jahre bis heute. Gewiß nicht immer und gewiß nicht glühend und heiß – nie wurde mein Wunsch so stark, daß ich je auch nur den kleinsten Versuch machte, mich ihr wieder zu nähern. Aber ich vergaß sie nie; durch wache Träume leuchteten immer wieder ihre irischen Augen. Und ich dachte: einmal wird sie kommen; einmal muß sie kommen, Eileen Carter.
Mein Geheimnis war das; niemand wußte davon und am allerwenigsten sie. Mit keinem Wort, mit keiner kleinsten Bewegung hatte ich ihr jemals gezeigt, wie ich mich sehnte nach ihr.
Das also war es nicht, daß sie mich abwies wie einen Liebhaber, der ihr lästig war.
Was also wollte sie?
Ich hatte ihr einen großen Dienst erwiesen, ich bilde mir nichts drauf ein; ich kenne Dutzende, die ihr genauso geholfen hätten, und es gibt gewiß viele Tausende. Aber nicht zu viele drüben in Amerika und niemand in ihrem Heimatstaat, Rhode Island. Damals konnte sie keinen finden – keinen als mich, der närrisch genug war, diese abscheuliche Arbeit für sie zu tun.

So war es:
Ich kam von New York nach Woonsocket, Rhode Island, im Auftrag der Central-Trust-Bank. Es handelte sich um eine Anleihe der Vereinigten Baumwollwerke, über die schon seit Monaten verhandelt wurde. Insgeheim hatte ich den Auftrag, die Verhandlungen auf alle mögliche Weise in die Länge zu ziehen, so jedoch, daß die Leute dies nicht merkten.
Meine Aufgabe schien nicht leicht. Die Krisis in Woonsocket war brennend seit einem Jahre; schon waren mehrere Firmen unter Geschäftsaufsicht, darunter die Wollfabriken des alten Phil Carter.
Als ich in den Zug stieg, kaufte ich die Zeitungen – alle trugen auf der ersten Seite große Schlagzeilen: »Selbstmord Phil Carters.«
Aber grade dieser Selbstmord war es, der mir meine Arbeit außerordentlich erleichterte. Niemand war am Bahnhof, mich abzuholen; im Hotel fand ich die Nachricht vor, daß heute unmöglich eine Sitzung stattfinden könne.
Der Selbstmord des alten Fabrikanten hatte wie eine Bombe in Woonsocket eingeschlagen. Kein Mensch sprach von etwas anderm.
Am nächsten Abend kam dann Rogers, der Anwalt der Baumwolleute, ins Hotel. Der Mann war in außerordentlicher Aufregung, völlig überhetzt dazu; er war asthmatisch und japste nach Luft. Er warf sich in einen Sessel und trank gierig einen Whisky.
Ich muß sagen, daß selten jemand einen so widerlichen Eindruck auf mich machte, wie Barett S. Rogers. Er war ein Sechziger, klein und sehr dünn. Nicht ein Haar hatte er mehr auf dem Kopfe; dafür aber war an der rechten Seite des Schädels eine mächtige Balggeschwulst, die blau angelaufen war. Große, rote, abstehende Ohren, schwarze, verfaulte Zähne. Aber klug war er. Er blieb nur fünf Minuten; doch erzählte er mir in dieser Zeit alles, was ich wissen mußte.
Das also war's: Rogers war der Anwalt und langjährige Freund Phil Carters. Er hatte nach dem plötzlichen Selbstmord alle Hände voll zu tun, da er auch den Behörden gegenüber, die vorderhand die Leiche beschlagnahmt hatten, die Tochter und einzige Erbin vertrat: Eileen Carter. Die war Studentin in Vassar; auf Rogers' Depesche hin war sie sofort zurückgekommen.
Es schien, als ob da etwas nicht ganz in Ordnung war. Eins war sicher: daß sich die Behörden bisher geweigert hatten, die Leiche freizugeben und daß darum Rogers einen erbitterten Kampf kämpfte.
Die Herrn kamen vollzählig am nächsten Morgen ins Hotel: nur Barett S. Rogers fehlte. Man wußte, daß er am Abend zuvor mit Miss Carter im Auto fortgefahren war – aber man wußte nicht, wohin. Und die beiden waren noch nicht zurück. Wir saßen von neun Uhr an und warteten auf ihn; erst gegen halb drei erschien er. Wenn er gestern aufgeregt war, so war er's heute noch viel mehr; sein schmales Vogelgesicht zuckte unaufhörlich, seine Hände flogen auf und nieder. Man sah dem Manne an, daß er von einem sehr schwerem Kampfe kam und zu einem noch schwerern gehn würde.
Er eröffnete sofort die Sitzung; ich legte meine Generalvollmacht vor, die mich ermächtigte abzuschließen.
Wir saßen kaum zehn Minuten, als ein Sheriff erschien, der Rogers ein Schreiben brachte. Er öffnete es und las.
»Meine Herrn«, sagte er, »die Gerichtssitzung ist um fünf Uhr anberaumt. Ich weiß nicht, wie lange sie dauern wird; zwei Stunden wenigstens. Ich bitte, unsre Sitzung jetzt zu unterbrechen.«
Die Männer drängten sich um den Anwalt, schüttelten ihm die Hand. »Viel Glück!« sagte einer. Und der alte Lippincott klopfte ihm auf die Schulter: »Wir stehn bei dir, Rogers!« – Der Anwalt ging. Man verabredete, daß man um acht Uhr wieder zusammenkommen wollte.

Die Baumwollherrn saßen in der Halle, rauchten, tranken Whisky. Und sie sprachen von dem, wovon jedermann sprach in diesen Tagen: von Phil Carters Ende und von der Tragödie, die sich – mit ihm – nach seinem Tode abspielte.
Alles geschah streng nach dem Gesetz. Dem Gesetz des Staates Rhode Island.
Damals schien mir das alles unglaublich und wahnsinnig. Aber geschahen nicht, nach uraltem englischem Recht, immer wieder die undenkbarsten Dinge in diesem Lande?
Jeder Staat Nordamerikas machte seine eignen Gesetze. Der Staat New York bestraft den Selbstmord nicht: Jeder mag sich da umbringen nach Herzenslust. Aber – niemand darf einen verunglückten Versuch dazu machen: ganz oder gar nicht, heißt es in New York. Wer ins Wasser springt und dann herausgefischt wird, wer sich aufhängt und rechtzeitig abgeschnitten wird – der wird ins Gefängnis gesteckt. Wenigstens – wenn es herauskommt.
So kennt auch, neben ein paar anderen Staaten, Rhode Island noch das alte englische Selbstmordgesetz: Nicht nur der Versuch, auch die vollendete Handlung ist hier strafbar. Nun ist es richtig, daß dieses Gesetz in unseren Tagen kaum noch angewandt wird. Es hat nämlich ein hübsches Hinterpförtchen: Da ist es Krankheit – und dieses Pförtchen macht man stets weit auf. Wenn der Selbstmord in Geisteszerrüttung vorgenommen wurde, ist er nicht strafbar, und so geben der Coroner und seine Jury, die Leichenschaukommission, wieder und wieder ihr Urteil ab, daß der arme Selbstmörder plötzlich seinen Verstand verloren habe.
Doch kam diesmal etwas hinzu. In diesem Jahre der schlimmen Krise hatte der große Evangelist und Prophet Billy Sunday sein Tabernakel in Providence, der Hauptstadt des Staates, aufgeschlagen. War von dort aus auf die Dörfer gezogen. Gewaltig war des Erweckers Erfolg überall im Lande, nirgends so groß wie in Rhode Island. Hier kam ihm alles entgegen: die altererbte puritanische Gesinnung wie der schwere wirtschaftliche Druck. Hunderttausende hatten Bill Sundays Versammlungen besucht, wo der frühere Baseballspieler wie ein Besessener auf dem Podium herumtobte und mit Armen und Beinen den Teufel bekämpfte. Viele Tausende hatten vor ihm im Staub gekniet, öffentlich ihre Sünden bekannt und von Stund an ihre Seele Gott dem Herrn zugeschworen.
Wie überall hatte Bill Sunday die Augenblickstatsachen gründlich ausgenutzt. Für die zappelnde Logik des Propheten war ein Selbstmord ja nicht die Folge der wirtschaftlichen Not, für ihn war umgekehrt diese nur die Strafe des Himmels dafür, daß die Menschen Gottes heilige Gebote verletzten und daß insbesondere freche Gottesverächter sich das Recht anmaßten, über den Zeitpunkt ihres Todes selbst zu bestimmen, anstatt dies dem zu überlassen, dem es einzig zustand: Gott, dem Herrn. Bill Sunday tobte darüber; immer wieder hatte er gepredigt, welch Verbrechen es sei, daß bei allen Selbstmorden die Leichenschaukommission auf plötzliche Geistesstörung erkenne und auf diese Weise fluchwürdigen Übeltätern ein christliches Begräbnis ermögliche. Nicht um ein Haar besser sei der Selbstmörder als der Raubmörder und Lustmörder, brüllte der Prophet, es sei endlich an der Zeit, dem Gesetz Geltung zu verschaffen und ein Beispiel zu statuieren!
Darum ging es nun. Von der Grand-Jury sollte heute die Entscheidung fallen; vor ihr stritt heute Rogers für die letzten Ehren des Verstorbenen.
Gegen acht Uhr stürmte, völlig durchnäßt, ein junger Mann in die Halle. Ich erkannte ihn gleich; es war Ned Lippincott, der Sohn des alten Lippincott. Hier hatte ich ihn noch nicht gesehen, aber oft genug in New York. Er warf dem Kellner den nassen Hut und Rock zu, während die Herrn aufsprangen und ihn umdrängten.
»Rogers hat –«, rief er, »Rogers hat –«
Er stotterte, stockte.
»Was hat er denn?« fragte einer der Herrn. »Kommst du von der Grand-Jury? Wie haben sie entschieden?«
Ned Lippincott warf sich in einen Sessel.
»Sie haben noch nichts entschieden, aber Barett Rogers hat Eileen Carter geheiratet!« schrie er.
Das schlug ein. So verblüfft waren alle durch diese plötzliche Mitteilung, daß sie alles Fragen vergaßen.
»Unsinn!« rief endlich der kleine Raleigh.
»Kein Unsinn!« schrie Ned Lippincott. »Gottverdammt kein Unsinn! Gestern abend ist sie mit ihm nach Warwick gefahren. Reverend Chagnon hat sie getraut. Sie sind beide zur Nacht dort im Hotel geblieben – und in demselben Zimmer alle beide! Eileen Carter ist Mrs. Barett S. Rogers. Der Teufel soll's holen!«
Wieder ließ er sich in seinen Stuhl fallen, als ob die Wut und der Schmerz ihn umwürfen.
Raleigh trat zu ihm, gab ihm sein Glas.
»Trink, Ned«, beschwichtigte er. »Und woher weißt du's?«
Ned Lippincott schluchzte. »Woher ich's weiß? Eileen hat mir's selber gesagt! Sie sind erst heute mittag zurückgekommen; Eileen hat zu mir geschickt, sie zur Grand-Jury abzuholen. Ich war mit ihr dort; da hat sie's mir gesagt. Jetzt, in der Pause, spricht sie mit Rogers, spricht mit ihrem – Mann! Da konnte ich's nicht mehr ertragen, bin hergelaufen!«
Rechts und links klopften ihm die Herrn auf den Rücken, von allen Seiten hielten sie ihm Whiskygläser hin. »Trink, Ned! – Trink, mein Junge!«
Er trank, riß sich zusammen, rief nach Mantel und Hut. »Ich muß zurück«, sagte er; »ich hab's Eileen versprochen.« Und ganz leise fügte er hinzu: »Sie hat gesagt – sie hätte mich genommen, wenn ich ihr hätte helfen können. Aber keiner konnte ihr dabei helfen, sagte sie, nur er, Rogers! Und darum nahm sie ihn.«
Ich ging zu ihm hin, streckte ihm die Hand hin. »Du?« rief er. »Du hier? Ich dachte, Parker käme von der Central-Trust. Entschuldige jetzt – ich muß zurück –, werde dich später sehn!«
Und er stürmte hinaus.

Das begriff keiner, warum Eileen Carter den Rogers nahm. Alle schätzten ihn als besten Anwalt des Staates; alle erkannten rückhaltlos seine geistige Überlegenheit. Aber ihn heiraten? Dies alte, widerliche Ekel, das Tabak kaute und spie und auf drei Schritt weit aus dem Munde roch?
Den, den nahm Eileen Carter?
Eileen, frisch von Vassar, achtzehn Jahre alt, voll erblüht in süßer Mädchenschönheit. Sie, Miss Carter, aus bester und ältester Familie Neuenglands, die einzige Tochter Phil Carters, des reichen Wollmagnaten – Das Rätsel war nicht zu lösen, warum Eileen Carter den häßlichen alten Rogers nahm.
Ich ging in den Speisesaal, nachtmahlte mit Raleigh. Wir waren kaum fertig, als der Kellner uns zurief, daß eben Rogers komme; wir gingen also zurück in die Halle.
Der Anwalt schien völlig nieder gebrochen; er stützte sich mühsam auf den Arm des alten Lippincott. Alles drängte und fragte; aber Rogers gab keine Antwort.
»Was ist los, zum Teufel?« brüllte Raleigh. Lippincott zuckte die Achseln. »Er hat verspielt!« antwortete er. Aber es dauerte Minuten, bis man klare Auskunft von ihm bekommen konnte.
Die Grand-Jury hatte also gesprochen, und sie hatte zum ersten Male seit vielen Jahrzehnten im Lande das Hintertürchen nicht aufgemacht! Man hatte eine Menge Zeugen geladen; der Staatsanwalt auf der einen und Rogers auf der anderen Seite hatten regelrechte Kreuzverhöre mit ihnen angestellt, wie bei einem Kapitalverbrechen vor den Geschworenen.
Alle Zeugen bestätigten die volle Geistesfrische Carters bis zur letzten Stunde. Vom frühen Morgen bis spät in die Nacht war er tätig, leistete eine ungeheure Arbeit und traf seine Anordnungen mit völliger Klarheit und Sicherheit. Am Mittag des letzten Tages ging er durch alle Büros, verabschiedete sich persönlich von den Angestellten und Ingenieuren. Dann ging er ruhig nach Hause, bestellte ein Bad und ließ sich alles vorbereiten, was nötig ist zum Rasieren. Er kam nicht mehr zum Luncheon – als man die Tür aufbrach, fand man ihn mit durchschnittener Kehle und völlig verblutet in der Badewanne.
Der Staatsanwalt sprach nur kurz, stellte den Antrag, daß die Grand-Jury als Todesursache auf Selbstmord bei vollem Verstand erkennen möge.
Und der Spruch der Jury war einstimmig. Einstimmig auf klaren Verstand!
Da kam der junge Lippincott in die Halle. Grade auf Rogers zu.
»Miss Carter ist draußen«, sagte er; »Mrs. Rogers, meine ich. Sie will Sie sprechen – sofort. Wo soll ich sie hinführen?«
Der Anwalt sprang auf; seine Beine zitterten.
»Führ sie ins Lesezimmer, Ned«, sagte Raleigh, »es ist sicher leer um diese Zeit.«
Ned nickte, rannte zurück zur Tür und kam gleich darauf mit der Dame zurück. Sie war in schwarzen Trauerschleiern; nichts konnte man von ihr sehn. Keiner sprach; alle traten zur Seite, sie durchgehn zu lassen, verbeugten sich stumm. Sie griff Neds Arm, ging mit ihm durch die Glastür ins Lesezimmer.
Rogers stand noch immer unbeweglich. »So geh doch!« rief Raleigh. »Laß deine Frau nicht warten!«
Da ging er – aber es war mehr ein Fallen, ein Hinken und Stolpern. Er verschwand im Lesezimmer – ließ die Tür halb offenstehen.
Keiner der Herrn dachte daran, sie zu schließen. Jeder lauschte, irgendein Wort aufzuschnappen von dem, was da drinnen gesprochen wurde.
Man hörte, daß Ned Lippincott sprach; aber man verstand nicht, was er sagte.
Dann, ganz hell, Eileen Carters Stimme: »Nein, du bleibst, Ned! Ich will, daß du bleibst!«
Nur Eileens Stimme hörte man zuweilen, aufgeregt und schnell, sehr hoch und manchmal sich überschlagend. Es war klar, daß sie den Anwalt überschüttete mit Vorwürfen.
»Sie haben Ihr Wort gebrochen, Rogers!« rief sie. »Sie haben auf die Bibel geschworen, daß ich meinen Vater beerdigen könne – und Sie haben Ihren Schwur nicht gehalten. Sie haben Ihren Preis genannt, Rogers – und ich hab' ihn bezahlt: Hab' Sie geheiratet!«
Sie schwieg einen Augenblick – wieder hörte man dieses helle, harte, einsilbige Lachen.
»Sie haben mich betrogen, Rogers!« fuhr sie fort. »God damn you!«
Die Herrn in der Halle fuhren auf – was hatte sie da gesagt? Sie, Eileen Carter aus Woonsocket, Rhode Island, erzogen auf der strengen Ann-Hutchinson-Schule in Providence, Collegegirl von Vassar, sie, die Tochter des frommen Puritaners Phil Carter – sie sagte: »God damn you!«
Und wie sie es sagte! Schneidend, scharf – ein Peitschenhieb in Rogers Gesicht!
Wieder klang Eileens Stimme. Nicht mehr beherrscht jetzt – in ohnmächtiger Wut.
»Ich bin fertig mit Ihnen, Rogers! Nie mehr will ich Sie sehn, Rogers!«
Man hörte sie mit dem Fuß aufstampfen. Dann einen Schrei: »Gehn Sie doch, gehn Sie doch! Hören Sie denn nicht, daß Sie gehn sollen!«
Dann Rogers wankende Tritte. Er griff seinen Hut, ging zur Haustür, rief nach einem Auto.

Ich blickte dem Auto nach, das schnell um die Ecke bog. Der Regen hatte ein wenig aufgehört – ich überlegte, ob ich noch einen kleinen Spaziergang machen sollte. Es war elf Uhr vorbei – die frische Luft würde mir guttun vor dem Schlafen.
Ich bummelte durch die Gassen aufs Geratewohl. Ein letztes Kino schloß seine Pforten, nur wenige Menschen kamen heraus. Ein offener Leiterwagen klapperte über das Pflaster, von zwei trabenden Gäulen gezogen – ein halbes Dutzend Männer saß da auf einer großen Kiste. Hin und wieder jagte ein Auto vorbei; sehr selten nur kam ein Fußgänger.
Die Luft war erfrischend, ich sog sie mit vollen Zügen ein.
Ich kam durch einen Villenvorort; nur selten sah ich noch Licht hinter Scheiben. Bald war ich draußen, kam auf einen kleinen Hügel, von dem ich Woonsockets spärliche Lichter überblicken konnte. Es fing wieder an zu tropfen – so war es Zeit, umzukehren.
Ich ging auf einem andern Weg zurück, der mir näher schien, lief über einen schmalen Feldweg; bald war ich auf einer baumbestandenen Landstraße – wenn man das schon Straße nennen wollte. Sie wurde augenscheinlich kaum benutzt und seit Jahren nicht gepflegt; so watete ich in einem schlammigen Morast. Jetzt fing es stärker an zu regnen, und bald goß es wieder in Strömen. In fünf Minuten war ich bis auf die Haut durchnäßt.
Da sah ich, einige fünfzig Schritte vor mir, Laternen auf der Straße stehen. Ich beschleunigte meine Schritte, stand im nächsten Augenblick vor ein paar Männern.
»Geht's hier nach Woonsocket?« rief ich sie an.
»Ganz richtig!« antwortete der eine. »Was wollen Sie hier?«
Nun kam der andre Mann heran. »Wir dürfen ihn nicht abweisen, Pat«, sagte er. »Der Befehl lautet, daß wir jede Ansammlung verhindern sollen. Der Mann da ist doch keine Ansammlung! Zusehn darf er – alles soll in vollster Öffentlichkeit geschehn.«
»Schöne Öffentlichkeit!« brummte der erste. »Bei dem Sauwetter um Mitternacht!« Er wandte sich wieder zu mir. »Also gut, wenn Sie durchaus die Öffentlichkeit vorstellen wollen, bleiben Sie.«
Ich ging also auf die Laternen zu – ein breiter Weg kreuzte hier die Landstraße. Da hielt der Leiterwagen, den ich vorher durch die Stadt hatte fahren sehn. Die lange Kiste stand auf der Erde. Daneben schaufelten, hart am Wegrand, vier kräftige Kerle eine tiefe Grube.
Eine der Laternen hing an einem Baum, die andre an der Seite des Karrens; sie beleuchtete ein rotes Schild, das in weißen Lettern Namen und Gewerbe des Besitzers zeigte – ah, der Wagen gehörte dem Wasenmeister Woonsockets!
Im Augenblick war mir klar, was da vor sich ging: Hier am Kreuzweg sollte, mitten in der Nacht, die Leiche des unglücklichen Phil Carter in aller Stille verscharrt werden. Wie ein gefallenes Vieh, wie ein räudiger Hund, vom Schinder und seinen Gehilfen!
So verlangte es das alte Gesetz in Rhode Island.
Ich dachte an Eileen Carter – die Tochter des Mannes, der dort in der Kiste lag. Ich kannte sie nicht, wußte nichts von ihr, hatte sie nur in den schweren schwarzen Schleiern gesehn. Sicherlich hatte sie keine Kenntnis von dem, was hier vorging – noch nicht. Aber sie würde es erfahren, morgen am Tage.
Und sie hatte für diesen alten Vater alles hingegeben, was sie besaß. Hatte ihr Mädchentum diesem gierigen schmutzigen Rogers geschenkt – um das zu verhindern, was hier geschah.
Umsonst dazu – zwecklos und nutzlos!
Die Leute griffen die Kiste – aber sie warfen sie nicht in die Grube. Brachen vielmehr den Deckel auf, hoben die Leiche hinaus, legten sie auf die Landstraße nieder.
Unbekleidet war sie, nur in Lappen schmutziger Sackleinen gewickelt.
»Was tut ihr?« rief ich.
Ein Mann faßte sofort meinen Arm. »Herr«, mahnte er, »Sie haben versprochen, nicht zu stören. Hier geschieht nur, was das Gesetz verlangt.«
Ich nahm mich zusammen; jeder Versuch, einzuschreiten, wäre vollkommen zwecklos gewesen. Sie waren zu sieben – und sie waren im Recht, waren von der Behörde bezahlt für das, was sie taten.
Zwei griffen die Leiche auf; an den Schultern faßte der eine und an den Kniekehlen der andre. Packten sie, warfen sie im Schwunge in das Loch, in dem das Wasser schon fußhoch stand.
Es klatschte und planschte.
»Herrgott!« stöhnte ich. Unwillkürlich faltete ich die Hände.
Aber der Mann achtete auf jede kleinste meiner Bewegungen. »Ich bitte um Verzeihung, Herr«, sagte er; »Sie dürfen hier nicht beten! Ausdrückliche Anordnung: Kein Gebet darf gesprochen werden! Dies darf kein christliches Begräbnis sein – wenn man es schon ein Begräbnis nennen will.«
»So macht doch zu, zum Henker!« rief ich. »Füllt die Grube auf, daß ihr endlich fertig werdet mit eurer widerlichen Arbeit!«
Aber sie waren noch nicht zu Ende. Einer der Knechte nahm einen Pfahl von dem Karren, dessen unteres Ende zugespitzt war. Armdick war die Stange, über zwei Meter lang, so ein Richtpfahl wie man ihn beim Anpflanzen junger Bäume gebraucht. Was sollte das? Wollten sie einen Schandpfahl errichten am Kreuzweg?
Der Mann ging zu der Grube, stellte den Pfahl mitten hinein – etwa vier Fuß hoch ragte er nach oben heraus.
»Leuchte!« rief der Wachtmeister.
Da nahm ein andrer die Laterne, leuchtete in die Grube. Und ich sah in dem Lichtschein, daß er den Pfahl mitten auf die Leiche gestellt hatte.
Ich war außer mir. »Das werdet ihr nicht tun!« schrie ich. »Das nicht!« Ich sprang nach vorn, riß dem Manne die Stange aus der Hand, warf sie auf die Straße.
Im selben Augenblick faßte mich ein Kerl von hinten, riß mich zurück. Zwei andre der Leute packten zu, wie im Schraubstock stak ich in ihren Griffen.
»Ruhig Blut, Herr«, sagte der Mann. »Dachte ich mir's doch, daß es nicht gut abgehn würde.«
Ich ahnte gut, was nun geschehn sollte. Dennoch flüsterte ich die Frage: »Was wollt ihr tun?«
Der Mann, der mich noch immer von hinten umspannt hielt, antwortete: »Durch das Herz des Selbstmörders. So ist das Gesetz in Rhode Island. Begreifen Sie doch, lieber Herr: Wir müssen dem Gesetz gehorchen!«
Sie warfen nun Erde in die Grube. Klatsch, klatsch, schlug der Schlamm in das schmutzige Wasser. Ich hatte das Empfinden, als ob mich jemand von oben auf den Kopf schlage, wieder und wieder und noch einmal. Ich wußte, daß niemand daran dachte, mich zu schlagen, daß es nur das Geräusch der Erdmassen war, die die Schaufeln in das Wasserloch warfen. Immer mehr, immer neue auf die Leiche Phil Carters. »Lassen Sie los!« stöhnte ich. »Ich mag das nicht mit ansehn! Lassen Sie mich!«
»Gehn Sie, Herr!« sagte der Schinder. »Gehn Sie langsam vor, und warten Sie auf unsern Wagen. In wenigen Minuten werden wir Sie einholen.«
In diesem Augenblick fiel ein heller Schlag – Holz auf Holz. Ein zweiter dann, ein dritter – immer mehr und ganz regelmäßig. Ah – mit dem Holzhammer trieben sie den Pfahl ein –, durch das Herz des Toten!
Ich schrie auf, rannte über die Landstraße der Stadt zu – es war, als ob diese Schläge hinter mir herliefen. Dann stolperte ich, fiel der Länge lang in den Schmutz, sprang wieder auf, rannte weiter. Stolperte gegen einen Baum, fiel ein zweites Mal ...
Dann hörte ich das Knarren der Räder. Ich wandte mich – sah die Laterne, die hinten näher kam. Den Karren mit den Henkersknechten – den Abdeckern!
Eine wahnsinnige Angst ergriff mich; ich zitterte, die Zähne klapperten aufeinander. Jetzt holen sie dich, dachte ich. Holen dich, schleppen dich zurück, werfen dich in die Wassergrube, hinein zu Phil Carter. Nehmen den Pfahl – nageln dich auf die Leiche ...
Ich warf mich zu Boden, kroch auf allen vieren zum Straßenrand, duckte mich hinter einen Baum. Der Schinderkarren kam heran, ratterte vorbei – Gott sei gedankt, sie hatten mich nicht gesehn!
Mühsam stand ich auf, blieb stehn auf dem Fleck, minutenlang. Wie erstorben war mein Leib, nichts fühlte ich von der Kälte und Nässe.
Ich kam in die Stadt, lief durch die leeren Gassen, fand mich endlich zurecht zum Hotel. Schellte und klopfte; bis sich die Tür endlich auftat.
Am nächsten Tage war alles in bester Ordnung. Meine New Yorker Bank rief mich an, daß ich die Anleihe abschließen sollte – und ich schloß ab. So hätte ich am Abend wieder zurückfahren können, wenn nicht plötzlich Ned Lippincott im Hotel erschienen wäre.
»Komm mit«, sagte er, »sie will dich sprechen.«
»Wer?« fragte ich.
»Eileen Carter –«, sagte er leise.
»Was will sie von mir?« fragte ich.
»Sie wird es dir selber sagen«, antwortete er. »Komm mit!«
Draußen im Villenvorort, wo die Fabrikanten hausten. Eine Villa im Garten, wie all die andern. Ned führte mich ins Haus. – Wir legten ab. Kaum eine Minute wartete ich, dann ging die Tür: Eileen Carter stand vor mir.
In Schwarz natürlich, mit langen Ärmeln und hochgeschlossenem Kleid. Bleich war sie: dennoch war Farbe in ihrem Gesicht. Rotblond war ihr volles Haar, blau, veilchenblau ihre Augen. Nein, man konnte das nicht mehr blau nennen: tief violett waren sie, strahlend leuchtende Amethysten. Nie sah ich so große Augen nie so lange, dunkle, tiefschattende Wimpern.
Sie trat auf mich zu, blieb dicht vor mir stehn. »Ned sprach mir von Ihnen«, begann sie. »Sie waren dabei?«
Ich nickte – wollte sie, daß ich ihr meine Erlebnisse berichten sollte?
Sie verstand meinen Gedanken, schüttelte den Kopf.
»Nein, Sie brauchen nicht zu erzählen. Man hat mir genauen Bericht erstattet ...«
Sie stockte, aber nur eine Sekunde lang. Ihre Stimme zitterte nicht, als sie fortfuhr: »– einer der – Schinderknechte!«
Sie stützte sich leicht auf den Tisch, atmete schnell. Dann begann sie wieder: »Ned sagte, daß Sie es tun könnten.«
»Was soll ich tun?« fragte ich. Aber ich wußte im selben Augenblick, daß es nichts gab, was ich nicht tun würde für diese Frau.
»Das – was er nicht tun will«, sagte sie. »Nicht tun – kann. Wollen Sie es für mich tun?«
Stumm verbeugte ich mich.
Sie hielt meinen Blick – bewegte die Lippen.
Dann, plötzlich, zuckte es um ihren Mund. Schnell, von oben herunter: Ein Nerv nur versagte den Dienst für eine kleine Sekunde. Aber sofort gewann sie wieder ihre Fassung. »Ich zahle Ihnen meinen Preis, Herr!« sagte sie.
Ein dummes, stotterndes »Ja – a!« kam von meinen Lippen.
Wieder verbeugte ich mich.
Noch einmal ihr Blick, dann ging sie zur Tür. Wie im Traume hörte ich die Worte: »Ned wird gleich kommen.«
Das alles hatte kaum drei Minuten gedauert. Sie hatte mich nicht gegrüßt, beim Kommen nicht und nicht beim Gehn; nicht einmal »Danke« hatte sie gesagt. Ich dachte: Das wird eine verdammt ernste Geschichte.
Dann kam Ned. »Du wirst es tun?« fragte er.
Ich nickte. »Wenn ich nur wüßte, was!« sagte ich.
»Das ist doch ganz klar«, rief er; »verstehst du denn nicht? Ihres Vaters Leiche dort wegholen, wo sie jetzt liegt, und ihm ein ehrliches, christliches Begräbnis geben.«
Ich atmete auf; ich hatte, ich weiß nicht, warum, etwas ganz Wildes, Phantastisches erwartet. Dies aber schien mir, im ersten Augenblick wenigstens, nichts so gar Schwieriges und Absonderliches zu sein.
Der nächste Tag verging mit Vorbereitungen, die Ned traf. Ich saß im Hotel, ging nicht vor die Tür bei dem jämmerlichen Regenwetter. Alle paar Stunden kam er an und berichtete. Er war fieberhaft tätig; ich muß anerkennen, daß er sich beste Mühe gab, mir die Arbeit zu erleichtern. Abends war er fertig, sprach noch einmal alles mit mir durch.
Die Nachtwachen zogen am Kreuzweg gegen zehn Uhr auf. Lösten dann die früheren Wächter ab und mußten bis zum Morgen bleiben. Ned hatte nun den Gedanken, diese Leute so trunken zu machen, daß sie nicht zur Ablösung kommen konnten. Die andern Wachen, die schon viele Stunden in dem Schmutz und Regen da herumstanden, würden eine Stunde, zwei Stunden vielleicht warten, dann würden sie die Geduld verlieren und nach Hause gehn. Ned hatte ein Auto für mich bereit, einen alten Klapperkasten der Fabrik. Zwei Leute hatte er ausgewählt: Burton und Jimmie; die sollten mit mir kommen, die Leiche ausgraben, in eine Kiste packen und auf das Auto laden. Wir sollten dann nach Warwick fahren, dort den Frühzug abwarten, mit dem er und Eileen von Woonsocket kommen würden. Die inzwischen sorgfältig verpackte Kiste sollte aufgegeben werden; ich sollte mit Eileen nach New York fahren. Dort hatte er sich bereits mit einem Pfarrer in Verbindung gesetzt, der uns helfen würde – noch an demselbem Tage würde Phil Carter endlich christlich bestattet in geweihter Erde seine Ruhe finden.
Das klang sehr leicht und einfach.
Ich fand das Auto an der bestimmten Stelle. Es war ein sehr großer Wagen, aber offen, nur von einer durchlöcherten Leinenplane gedeckt. Die lange Kiste stand darunter, dabei lagen, fest zusammengebunden, Spaten, Schaufeln und Hacken.
Wir fuhren los, im Bogen um Woonsocket. Scheußlich war das Wetter, die Straßen so aufgeweicht, daß wir ein übers andre Mal im Morast steckenblieben. Es klatschte und triefte durch den schlechten Überzug; wir wurden naß, noch ehe wir ankamen. Wir hielten ein paar Kilometer vor dem Kreuzweg. Ganz fern konnten wir eine Laterne sehn; dort standen die Posten.
Wir warteten endlos lange. Schließlich kam Ned mit seinem Auto. Er berichtete, daß die zwei Männer, die zur Ablösung kommen sollten, mit seinen Leuten in der Kneipe säßen und wohl da klebenbleiben würden, und daß inzwischen die Wachen ihren Posten endlich verlassen hätten.
»Fahr zu, Ned«, rief ich, »wir treffen uns im Zug in Warwick!«
Ich wandte mich zu meinen Leuten. »So, nun bringt das Auto her!«
Aber da sah ich nur einen. »Wo ist Jimmie?« fragte ich.
Burton lachte auf. »Ausgerückt! Hat sich gleich gedrückt, als Sie ausstiegen, Herr! Querfeldein – und wie er rannte!«
Da war nichts zu machen, wir konnten ihm nicht nachlaufen. So fuhr ich denn das Auto selbst heran, lud mit Burtons Hilfe die Kiste aus. Dann nahmen wir Schaufel und Spaten.
Die Stelle war nicht zu verfehlen, die Stange stak hoch heraus. Außerdem hatten die Wächter Ziegelsteine in den Schlamm getreten.
»Also 'ran, Burton!« rief ich. »Je eher wir fertig sind, um so besser.«
Wir griffen jeder einen Spaten, und schaufelten los. Aber es zeigte sich, daß die Steine dort fester getreten waren, als wir vermuteten.
»Nimm die Hacke!« befahl ich. »Wir müssen erst die Steine wegheben.«
Mein Mantel hinderte mich, ich zog ihn aus und warf ihn in den Wagen. Burton schwang schon die Hacke, löste einen Stein nach dem andern ab. Da wir nur eine Hacke hatten, machte ich mich, um nicht müßig zu stehn, an die Kiste, löste die Stricke, hob den Deckel ab.
»Gottsverdammt!« schrie Burton plötzlich.
Ich wandte mich nach ihm um, sah, wie er kopfüber hinstürzte. Ich sprang gleich hin, ihm zu helfen.
»Was ist los, Mann?« fragte ich.
»Gottsverdammt, gottsverdammt!« fluchte er.
Ich nahm die Laterne und leuchtete, sah gleich, was geschehn war. Er war ausgeglitten auf den glitschigen Steinen. Hatte im Fallen sich das spitze Eisen ins Schienbein geschlagen.
Das Hosenbein war in Fetzen, ich riß es herunter – abscheulich sah die Wunde aus. Ich hob ihn hoch, schleppte ihn an den Schultern zum Auto, setzte ihn dort auf das Trittbrett. Die Wunde blutete wenig, aber ganz augenscheinlich war der Knochen angeschlagen. Ich zog die große Whiskyflasche unter dem Sitz hervor, entkorkte sie, wusch mit dem Taschentuch die arg verdreckte Wunde.
Burton stöhnte vor Schmerz. Dann sagte er: »Verbraucht nicht alles auswendig, Herr – drinnen tut's auch gut! Laßt mir noch 'nen Tropfen!«
Ich gab ihm die Flasche, die er sofort an die Lippen setzte.
»Jetzt geht's schon besser«, seufzte er. »Aber mit der Arbeit ist's aus, Herr; stehn kann ich nicht.«
»Macht nichts, Burton«, rief ich; »werd' schon allein fertig werden.«
»Bekümmern Sie sich nicht um mich, Herr«, antwortete er. »Ich werd's aushalten. Haben Sie nichts da, ums Bein zu wickeln?«
Ich besann mich – was sollte ich ihm geben? Schnell zog ich Rock und Weste aus, riß das Hemd herunter.
»Ist verdammt nett von Ihnen, Herr«, sagte Burton. »Kann ich's zerreißen?«
Ich nickte. »Ich werd' so schwitzen bei der Arbeit! Dann hab' ich nachher wenigstens trocknes Zeug.«
Burton schob Rock und Weste unter die Sitze, machte sich daran, sein Bein zu verbinden. Ich nahm die Hacke auf, löste die Ziegelsteine, die besonders dicht um den Pfahl staken.
Es war mühselig genug; jeden einzelnen mußte ich erst lockern, dann mit den Händen herausnehmen. Ich griff den Spaten, begann die Erde auszuwerfen. Nie im Leben hatte ich so ein Ding in der Hand gehabt, benahm mich ungeschickt genug.
»Tiefer fassen, Herr!« rief mir Burton zu.
Wie ein Strafgefangener im Steinbruch arbeitete ich. Der Schweiß rann mir vom nackten Leibe, der kalte Regen wusch ihn herunter. Bis ins Gesicht spritzte mir der Schlamm.
Das Schlimmste war, daß in dem Loch, nachdem ich die Steine entfernt hatte, mehr Wasser als Erde war. Eine Viertelstunde verrann nach der ändern; ich merkte kaum, daß ich weiterkam.
»Nehmen Sie die Schöpfkelle!« rief Burton.
Ich schöpfte nun Wasser und Schlamm. Aber es kam mir vor, als ob ich stets nur eine Handvoll heraushob. Und der Regen goß, goß immer neue Wassermassen in die Grube. Ich hatte ein Empfinden, als ob die Leiche Phil Carters bis zur Mitte der Erde gesunken sei.
Dann griff ich wieder zur Schaufel, grub wie ein Besessener. Dicke Blasen bekam ich an den Händen; ich achtete es nicht. Dann sprangen die Blasen – und das rohe Fleisch kam heraus. Wie Feuer brannten die Handflächen.
Ich riß an dem Pfahl, aber ich konnte ihn nicht lockern. Noch mehr Steine holte ich aus dem Loche – dann wieder Wasser und Schlamm. Glühheiß war ich im Augenblick und im nächsten wieder eisig kalt.
Ein Stich um den andern; immer höher häufte sich die Erde am Rande. Manchmal war ich so müde, daß ich glaubte, ich würde umsinken, in die Grube fallen.
Aber vor mir leuchteten im Dunkel die Amethystaugen Eileen Carters. Ich mußte es tun. Und von neuem ergriff ich mit blutwunden Händen die Schaufel.
Endlich – endlich etwas Festes. Ich fürchtete, die Leiche zu verletzen, warf den Spaten hinaus. Arbeitete weiter mit den Händen. Der nasse Schlamm kühlte das rohe, brennende Fleisch.
Etwas stak da hervor. Ich faßte es, zog daran – das schmutzige Sackleinen, in das Carter gehüllt war. Unendlich langsam legte ich den Körper bloß – ein Bein und dann das andre.
Ich ergriff einen Fuß, zog daran. Schrak auf – ich hatte das Empfinden, als würde ich dem Toten ein Bein ausreißen. Stärker dann zog ich, faßte beide Beine, riß sie hoch mit all meinen Kräften. Nun hatte ich den Leichnam losgelöst aus dem Morast. Ich zog die Beine hoch an den Rand der Grube, kletterte hinaus, griff wieder die Füße, zog und zog.
Neben dem Loch lag Phil Carters Leiche. Ich ließ die Beine fallen, verschnaufte einen Augenblick, völlig erschöpft.
»Herr!« jammerte Burton, »Herr!«
»Was gibt's?« fragte ich. Er zeigte stumm auf sein Bein. Ich rückte die Laterne heran, kniete nieder, löste den Verband: Zu einem unförmigen Klumpen war sein Bein aufgeschwollen.
»Hast du ein Messer, Burton?« fragte ich ihn. Er griff in die Tasche, suchte sein Messer, gab es mir. Mit unsäglicher Mühe zerschnitt ich das Leder, zog ihm schließlich den Stiefel vom Fuß. Verband ihm noch einmal den Unterschenkel.
Er sah meine Hände. »Schlimm«, brummte er, »schlimm. Geben Sie mir etwas Schlamm von dem Haufen!«
Ich tat es; er schmierte mir sorgfältig die feuchte Erde über die wunden Handflächen. »Eine Sauarbeit«, fluchte er, »verdammt nochmal! Die Nacht werde ich nie vergessen – mich kann sie das Bein kosten und Sie beide Hände!«
»Dummes Zeug, Burton!« rief ich. »Klapp mir jetzt nur nicht zusammen; die Hauptsache ist getan.«
Ich griff wieder die Füße der Leiche, zog sie an die Kiste heran. Ich sah, wie der Kopf halbgelöst vom Rumpfe, hinten nachschleppte.
»Der Pfahl!« rief Burton. »Sie müssen den Pfahl herausziehn! Sonst kriegen Sie ihn nicht in die Kiste.«
Die Stange war zur Seite gefallen, schleppte nebenher auf dem Boden. Ich machte mich sofort daran, sie herauszuziehn. Es ging nicht, sie saß fest, als ob sie in Eisen stäke.
Ich leuchtete, sah, daß sie ganz durch die Leiche getrieben war.
»Heben Sie die Stange herüber, zu mir her!« rief Burton.
Ich tat, wie er geheißen. Er stemmte den linken Fuß auf den Boden, faßte die Stange, während ich auf der andern Seite kniete und die Leiche festhielt. Wir zerrten und rissen, – es war, als ob der Tote seinen Schandpfahl nicht hergeben wollte.
Die Stange war heraus; Burton riß sie ins Auto. Nun konnte ich die Leiche zur Kiste schleppen. Ich faßte sie an den Schultern, hob sie hoch, warf sie hinein. Zog dann die Kiste heran, schob sie ans Auto.
Nun aber ging es nicht weiter. Es war unmöglich, daß ich allein die schwere Kiste aufs Auto heben konnte.
Ratlos stand ich da in der ersten Dämmerung.
»Herausnehmen!« bestimmte Burton, »nehmen Sie die Leiche heraus!«
Ich tat es, hob sie dann mit seiner Hilfe auf das Auto. Ich wickelte meinen Mantel herum, auch Rock und Weste, band alles fest mit den Stricken. Dann zog ich Burton hinauf.
Ich sprang auf den Fahrersitz, fuhr los, nach Westen zu.
Keinen Menschen trafen wir auf der Landstraße. Dämmrig war es, es schien, als ob es nie Tag werden wollte in diesem trostlosen Märzregen.
Viermal blieb ich stecken. Hinaus aus dem Kasten, und an den Spaten. Fußhoch Dreck wegschaufeln, ankurbeln und weiter.
Die Straße gabelte sich. »Wo hinaus, Burton?« rief ich zurück. Aber ich erhielt keine Antwort.
Ich fuhr aufs Geratewohl – nur die Richtung hatte ich: Westen. Wenn ich auch nicht nach Warwick kam, so mußte ich doch einmal herauskommen aus Rhode Island.
Ich hatte Glück. Ich kam wirklich nach Warwick. Ratterte durch die Stadt, hielt draußen vor dem Bahnhof.

Und diesmal wenigstens klappte es. Drei Leute, die Ned Lippincott bestellt hatte, erwarteten mich.
Jetzt erst ließ ich das Steuer los – wollte es loslassen. Doch das ging nicht: Meine Hände waren festgeklebt mit Schmutz und Blut. Ich mußte sie losreißen – scheußlich sahn sie aus.
Aber ich hatte keine Zeit für meine schmerzenden Hände. Ich sprang ab, hielt mich mühsam aufrecht; einer der Männer hing mir seinen Mantel über den nackten Leib. Dann ließ ich das Auto öffnen – da lag Burton, vom Sitz herabgefallen, völlig bewußtlos.
Ich gab sofort meine Befehle. Ließ Burton in Neds Auto hinüberschaffen. Es war nicht leicht, den schweren Mann aufzunehmen, sie nahmen den Pfahl zu Hilfe, der unter ihm lag. – Phil Carters Pfahl. Setzten ihn darauf, trugen ihn hinüber – ganz gut ging's. Einen der Männer schickte ich aus, eine Kiste zu kaufen, auch, nach bester Möglichkeit, neue Kleider zu besorgen. Den anderen ließ ich als Wache auf meinem Auto bei Carters Leiche; den letzten nahm ich als Fahrer auf Neds Wagen. Wir flößten Burton Whisky ein – er kam wieder zu sich, aber nur auf Augenblicke. Ich setzte mich neben ihn, hielt ihn fest auf seinem Sitz, während wir zum Hospital fuhren.
Warwick hat ein gutes Krankenhaus; Gott sei Dank war es nicht weit entfernt. Ich hinterlegte Geld für ihn – dann ging's zurück zum Bahnhof. Mein Mann stand schon da mit einem Packen Kleider; er führte: mich zu der Badegelegenheit des Bahnhofs. Drei Minuten später stand ich unter einer warmen Brause: nie im Leben hab' ich ein Bad so genossen. Der Mann bürstete mir den Schmutz vom Leib; es war unmöglich, daß ich selbst etwas anfassen konnte mit meinen Händen. Die freilich konnte er kaum rein machen; er schmierte mir Zinksalbe darauf, die er eingekauft hatte, umwickelte sie mir notdürftig mit Verbandmull. Dann zog er mich an; komisch genug sah ich in den Kleidern aus, die mir viel zu eng waren. Ich ging hinaus auf den Bahnsteig – da standen die andern mit der Kiste. Prächtig sah sie aus, fest in wasserdichtes Wachstuch eingenäht.
Dann brauste der Zug herein, Ned Lippincott sprang aus einer Tür. Und daneben aus dem Fenster lehnte, tief verschleiert, Eileen Carter.
»Hast du – hast du –?« fragte Ned.
Ich wies nach hinten zum Gepäckwagen; eben schoben seine Leute die Kiste hinein.
Ned ergriff meine Hand – ich schrie auf vor Schmerzen. »Laß los, zum Teufel!« heulte ich.
»Verzeihung«, sagte er; »was hast du denn an den Händen?«
»Fertig!« rief der Schaffner.
»Hilf mir, Ned!« sagte ich. Er schob mich von hinten in den Wagen.
Die Lokomotive zog an, wir fuhren. Auf dem Bahnhof stand Ned – blickte uns nach.
Eileen kam auf mich zu. »Was ist's mit Ihren Händen?« fragte sie.
»Oh, nichts Besonderes«, log ich. »Die Haut ein wenig zerplatzt von der ungewohnten Arbeit.«
Ned hatte für mich einen Platz im Pullmanwagen belegen lassen. Eileen Carter hatte ein kleines Abteil für sich; sie zog sich sofort dahin zurück, kam nicht mehr zum Vorschein, bis wir in New York einliefen. Ich saß in meinem Sessel, starrte in die Regenlandschaft: wie Feuer brannten meine Hände. Nicht einmal »Danke« sagte sie.

War in Warwick alles am Schnürchen gegangen, so versagten Neds Vorbereitungen in New York wieder vollständig. Ein Pfarrer sollte uns abholen, unser seltsames Gepäck sollte in Empfang genommen und sogleich besorgt werden. Aber niemand war am Bahnhof, außer meinem Diener, dem ich telegrafiert hatte. So blieb mir nichts andres übrig, als unsere Kiste einstweilen bei der Aufbewahrungsstelle abzugeben. Ich gab Eileen meine Adresse und versprach ihr, daß ich abends in ihrem Hotel, das nicht weit von meiner Wohnung lag, anrufen würde. Dann verabschiedete ich mich.
Ich fuhr zu einem befreundeten Arzt, der mit einer Krankenschwester fast zwei Stunden lang an meinen Händen herumdokterte. Es war kein Vergnügen; ich schwor, daß ich nie im Leben wieder einen Spaten anrühren würde. Übrigens dauerte es vier Wochen, bis ich wenigstens von der linken Hand den Verband abnehmen konnte; bei der rechten dauerte es noch viel länger. Die Andenken freilich trage ich heute noch – immer wieder fragen mich die Leute: »Was haben Sie denn eigentlich mit Ihren Handflächen gemacht?« Ich antwortete dann so von obenhin: »Ach, so ein bißchen Gartenarbeit!«
Am späten Nachmittag kam der Pfarrer zu mir, an den Ned Lippincott geschrieben hatte. Er war sehr freundlich; aber er erklärte rundheraus, daß er, so sehr er auch mit Ned und besonders mit dessen Vater befreundet wäre, doch unter keinen Umständen seinen Wunsch erfüllen könne. Er müsse auf seine strenggläubige Gemeinde Rücksicht nehmen, und es sei sicher, daß er die Bedenken, die einem solchen Begräbnis entgegenständen, bei seinen Gemeindeältesten nicht würde überwinden können. Er gab mir die Adresse einiger anderer Geistlichen, die mir vielleicht helfen könnten.
Früh am andern Morgen machte ich mich an die Arbeit. Aber ich fand bald heraus, daß ich mich geirrt hatte, wenn ich glaubte, daß in dieser Beziehung die Weltstadt New York freigesinnter wäre als das Provinznest Woonsocket. Ich sprach mit einem Pfarrer nach dem andern, lief auf immer neue Friedhöfe, um einen Platz zu bekommen. Tagelang dauerte das; manchmal bekam ich halbe Zusagen, zuweilen glaubte ich schon am Ziele zu sein – jedoch zerschlug sich alles letzten Endes. Ich erstattete stets Eileen Carter Bericht, telefonierte fünfmal am Tage mit ihr, sah sie oft in der Halle ihres Hotels. Immer tiefer verschleiert wie im Zuge.
Aus Woonsocket kamen keine neuen Schwierigkeiten; die Behörden hatten die Spuren meines Leichenraubes sofort beseitigen, die Kiste fortschaffen, die Grube zuschütten lassen. Jedenfalls waren sie froh, allen Weiterungen enthoben zu sein.
Durch Parker kam ich mit dem Direktor des Krematoriums, der mit ihm befreundet war, zusammen. Ich klagte ihm mein Leid und fand Verständnis – er versprach, die Leiche verbrennen zu lassen, sobald ich ihm die Kiste herbeischaffe. Er wies mich an den Geistlichen einer freireligiösen Gemeinde, der mir zusagte, bei der Aufstellung der Aschenurne einige Worte zu sprechen. Freudestrahlend rief ich Eileen an, um ihr die gute Nachricht mitzuteilen; doch bekam ich vom Hotel die Nachricht, daß sie früh nach Rhode Island gefahren sei und erst am nächsten Tage zurückkommen würde. So froh war ich, ihr endlich gute Nachricht bringen zu können, daß ich im Zuge ging, sie abzuholen. Sie traf pünktlich ein; kam gleich auf mich zu, als sie mich sah, schwarz verschleiert, wie immer.
»Wie geht's Ihren Händen?« fragte sie. Und ich glaubte zu hören, daß ihre Stimme zitterte.
»Recht gut!« sagte ich leichthin. »Es ist gar nichts von Bedeutung.«
»Ich weiß, was es ist«, erwiderte sie. »Ich war in Warwick, habe Burton im Krankenhaus besucht.«
»Burton?« fragte ich. »Wie geht's ihm?«
»Es geht ihm besser«, erwiderte sie. »Er wird sein Bein nicht verlieren, aber sicher noch zwei Monate liegen müssen.« Sie schwieg; dann, nach einer Weile fuhr sie fort: »Burton hat mir alles erzählt.« Diesmal war ich ganz sicher: ihre Stimme zitterte.
»Alles?« fragte ich – nur um etwas zu sagen.
»Alles!« betonte sie. »Ned hätte es nie tun können – und ich weiß nicht, wer's getan hätte für mich.«
Auch jetzt kein kleinstes Wörtchen des Dankes.
Wir kamen durch die Sperre; ich brachte sie zu meinem Auto, um sie nach ihrem Hotel zu fahren. Unterwegs erzählte ich, was ich gestern ausgerichtet hatte.
Aber sie lehnte es sofort ab. »Nein«, sagte sie fest, »das kann nicht sein. Mein Vater hätte sich nie verbrennen lassen, hätte auch nie einen freireligiösen Prediger geduldet.«
»Was soll ich denn machen?« entfuhr es mir.
»Sie müssen einen christlichen Geistlichen finden und einen christlichen Friedhof«, erklärte sie mir. »Sie haben Schwieriges für mich getan, und Sie müssen auch dies tun! Sie müssen Ihr Werk zu Ende führen.«
Sie rückte ihren Schleier zurecht – eine Sekunde lang traf mich ihr tiefblauer Blick.
»Ich werde es tun«, sagte ich.
Als ich mich am Hotel von ihr verabschiedete, rief sie mich zurück. »Oh – ich vergaß!« sagte sie, gab mir einen Gepäckschein. »Wollen Sie das besorgen für mich? Und gleich herbringen?«
Ich fuhr also zurück zum Bahnhof, ließ mir das Gepäck herausgeben. Eine Golftasche war es – nichts sonst. Ich ärgerte mich: Damit hätte sie, weiß Gott, einen Hoteljungen beauftragen können.
Sie saß in der Halle, wartete auf mich. Ich gab ihr die Tasche – jetzt erst fiel mir auf, daß keine Golfstöcke oben herausstaken. Sie nestelte die Schnur auf. »Burton gab mir das«, sagte sie.
»Burton?« fragte ich. Was konnte der ihr schenken? Sie öffnete die Golftasche, griff hinein. Da war, in drei Teile zersägt, die Stange!
»Mein – Erbteil!« sagte sie. »Ich will es aufbewahren. Burton meinte, daß es für mich Bedeutung habe und für sonst niemand in der Welt.«
Sie ging zum Fahrstuhl, still und ruhig, nahm die Tasche mit. Diese Tasche, die ihr einziges Erbe enthielt: den Pfahl aus ihres Vaters Herzen!
Welch eine Frau!

Noch an demselben Tage machte ich mich von neuem an die Arbeit. Ich glaube, daß es keinen Menschen in New York gibt, der so viel Ehrwürdige Herrn kennengelernt hat wie ich – und so viel über sie geflucht hat. Endlich fand ich doch einen, der mir half.
Es war der Pastor des Deutschen Seemannsheimes. Er kannte wie all die andern den Fall natürlich aus den Zeitungen; ich setzte ihm auseinander, daß ich schon beim vierten Dutzend angelangt sei, aber von jedem der Herrn Pfarrer nur Absagen bekommen hätte. Er lächelte, nahm aber seine Amtsbrüder in Schutz – sie müßten eben Rücksicht auf ihre Gemeinden und namentlich auf die Ältesten nehmen. Bei ihm sei das nicht so schlimm – seine Seeleute würden es nicht so genau nehmen.
Diesmal nahm ich mich in acht, hütete mich wohl, Eileen Carter zu sagen, daß der Mann ein Deutscher war. Ein Deutscher – vielleicht würde sie erklären, daß ein Deutscher kaum ein Christ zu nennen sei, würde mich von neuem auf die Pastorenjagd schicken.
Ein kleiner Friedhof, ärmlich genug. Aber es war ein richtiger Sarg da, in dem nun Phil Carter lag, und ein richtiges Grab und ein richtiger Geistlicher, der christlich sprach und christlich betete. Nur Eileen Carter war dabei und ich mit ihr; wir warfen Blumen auf den Sarg, als er hinabgelassen wurde.
Sie kniete nieder am Grabe und betete; ich wußte nicht recht, was ich machen sollte, kniete schließlich neben ihr hin. Dann stand sie auf, schüttelte dem braven Geistlichen die Hand und bedankte sich. Es war ihr ernst damit, ihr Herz quoll über – der bescheidene Pfarrer wußte kaum, was er antworten sollte.
Für mich noch immer kein Wort des Dankes.
Mir gab sie nicht die Hand – noch nicht einmal hatte sie mir die Hand gegeben.
Sie stieg in ihr Auto, fuhr allein nach Hause.

Zwei Wochen lang hörte ich nichts von ihr. Dann rief sie mich an, fragte, ob sie mich besuchen dürfte. Ich bat sie, zum Tee zu kommen.
Ich benahm mich an diesem Nachmittag wie ein junger Tolpatsch, der zum erstenmal seine Angebetete bei sich erwartet. Ich kaufte Blumen, stellte sie hierhin und dorthin. Ich rückte an den Möbeln herum, hängte Bilder grade – obwohl mir das alles mit den verbundenen, ständig schmerzenden Händen schwer genug fiel. Ich schickte den Diener weg, stand am Fenster, blickte auf die Straße – lauerte auf jedes Auto.
Sie kam, und ich öffnete ihr. Ich bat sie, abzulegen, half ihr, den Pelz abnehmen, Schleier und Hut. Beim Aufhängen machte ich eine ungeschickte Bewegung, die rechte Hand tat so weh, daß ich den Pelz fallen ließ und leise aufschrie. Sie bemerkte es sofort, nahm den Pelz auf.
»Noch nicht besser mit den Händen?« fragte sie.
»O doch, doch!« rief ich. »Das ist fast ganz in Ordnung!«
Ich führte sie ins Wohnzimmer, sie gab nun acht, daß ich nichts anrührte mit den Händen. Sie schloß die Tür, sie schob sich selbst den Sessel zurecht. Duldete nicht, daß ich die Teekanne nahm, füllte selbst die Tassen, gab Zucker hinein. Tat das alles so natürlich, so selbstverständlich, als ob sie seit Jahren daheim wäre in diesen Räumen.
Nichts sprach ich, nur ihre Augen starrte ich an.
Sie lehnte sich zurück in ihrem Sessel, trommelte mit der Hand auf der Lehne. Bog sich dann leicht vor, mir entgegen – voll sah sie mich an.
»Ich bin gekommen, meine Schuld zu bezahlen«, sagte sie still.
Ich begriff nicht, was das sollte. Den Pfarrer, den Begräbnisplatz hatte sie selbst bezahlt. Wollte sie mir die kleinen Auslagen zurückerstatten, sollte ich ihr aufschreiben, was ich für Autos und Trinkgelder ausgegeben hatte?
Aber sie ließ mich nicht im Zweifel. »Ich will meinen Preis bezahlen«, wiederholte sie. »Mein Vater hat bezahlt, was er schuldig war – im Leben und noch im Tode. Ich bin wie er; ich will nichts umsonst. Will keine – Wohltätigkeit. Ich habe Rogers bezahlt und Ned Lippincott ...«
Sie schwieg. Nur eine kleine Bewegung machte sie, die aber war bezeichnend genug – sie nahm ihre Halskette ab, diese armen schwarzen Jettperlen, legte sie vor sich auf den Tisch.
»Ned hat mich betrogen«, fuhr sie fort, »wie Rogers mich betrog. Sie haben mich nicht im Stich gelassen – Sie nicht. Und also – darum kam ich her.«
Ich begehrte diese Frau wie nie eine andre, nie zuvor und nie später. Ich sog den Trank ihrer Augen in mich hinein, wie die Lenzerde den Mairegen trinkt. Meine Fingerspitzen sehnten sich, ihre Haut zu berühren, leise über ihre roten Locken zu streicheln. Meine Blicke streiften das Kleid von ihr ab, dieses schlechte Trauerkleid einer kleinen Schneiderin aus Woonsocket; ich sah ihre jungen, vollen Brüste, ihre schlanken Hüften ...
Ein kleines Wort nur sollte ich sagen.
Und ich sagte das andre Wort. Sprach ein »Nein« und kein »Ja«. Still und tonlos, unhörbar fast: »Nein!«
Ganz unbewußt war das; nicht ein bißchen verstand ich in jenem Augenblick, warum ich das sagte. Es quälte mich maßlos – und sicher verstand sie, wie ich litt.
Sie sah mich an – ein schnelles Lächeln, als ob sie plötzlich begreife, was in mir vorgehe. Und, ganz langsam, sagte sie: »Die Hände, Herr? Ihre armen Hände! Ich will warten, bis sie gesund sind. Rufen Sie mich, Herr – wann immer Sie bereit sind.«
Sie stand auf, nahm ihre Kette, gab sie wieder um den Hals – es war, als ob sie, die Nackte, nun sich wieder ankleide von Kopf bis zu den Füßen.
Meine Hände, mein Gott, meine Hände! Ich hatte so wenig an sie gedacht wie an die große Schaukel von Coney Island! Hatte so völlig meine Wunden vergessen, daß ich Eileen hochgerissen hätte, fest gefaßt, aufgehoben und getragen dorthin zur Lagerstätte – auf meinen Händen.
Und diese Frau glaubte, daß ich darum das ablehne, was sie mir brachte! Daß ich diese Stunde verschieben wolle – um eine Woche, einen Monat vielleicht! Daß ich meinen Preis genau verlangte und ohne Abzug, den vollen Genuß ihres Leibes und nicht den halben!
Blut drang mir heiß ins Hirn. Ich sprang auf.
»Madame«, sagte ich, »Sie haben mich mißverstanden. Ich warte nicht darauf, daß die Hände heil sind. Ich pflege ...«
Das wollte ich sagen: »Ich pflege meine Frauen nicht zu kaufen! Für Geld nicht – und für nichts andres!« Ich sagte es nicht, stand stumm in dem Glanz ihrer Augen.
Nach einer Weile sprach sie: »Dann soll ich gehn?«
Ich dachte flehend: »Bleib, bitte, bitte, bleib! Fühlst du denn nicht, wie sehr ich mich nach dir sehne? Bleib, bleib – heute und immer!«
Kein armes Wörtchen sprach ich. Sie mußte das Wort finden – sie allein, Eileen.
Sie wiederholte: »Dann also muß ich gehen ...«
Und sie ging, Eileen Carter. Ging aus dem Zimmer, ließ die Tür weit auf.
Ich fühlte – du sollst ihr nachkommen, sollst sie zurückholen.
Aber ich blieb stehn, rührte mich nicht. Hörte ihre Schritte auf dem Flur, hörte, wie sie Hut nahm und Pelz. Hörte, wie sie die Flurtür aufmachte, hinter sich schloß.
Dann, dann erst schluchzte ich auf: »Eileen ...!«

Hundertmal hab' ich mir das durchdacht, alles hingewendet und her. Heute weiß ich genau, was ich hätte sagen sollen – damals.
Weiß auch, daß ich's nie hätte sagen können, damals nicht noch heute.
Ich begreife ja alles recht gut. Verstehe sie, verstehe mich – was soll das nun nützen?
Dumm und jung war sie, Puritanertochter aus Rhode Island. Ein Telegramm bekam sie: ihr Vater sei tot. Fuhr heim, hörte vom Selbstmord. Und Rogers, ihres Vaters alter Freund, machte ihr gründlich klar, was nun geschehn könne. Geschehn würde, wenn er nicht helfe. Doch er würde helfen – wenn sie ihn heirate. Ratlos, ohne Verwandte und Freunde, ohne jedes Vermögen, willigte sie ein. Brachte sich als Opfer dem Gedenken ihres Vaters, getreu ihrer Erziehung, getreu der Überlieferung der Familie, fest überzeugt, daß nur Rogers helfen könne und nur er allein.
Rogers versagte; das grausame Gesetz griff mit gierigen Klauen die Leiche des Vaters. Mag sein, daß der ihr herzlich gleichgültig war, solange er lebte – nun aber stand sie fest zu dem Toten. Was auch geschehn möge, sie mußte ihn haben. Sie suchte, suchte: Ned Lippincott fiel ihr ein; ihn ließ sie rufen. Sie erzählte ihm alles, fand ihn bereit. Sie gab sich ihm, wie sie sich Rogers gab, ratlos, hilflos, doch sofort entschlossen in rücksichtslosem Kampf um den toten Vater.
Zu mir kam sie, als Ned versagte – und mir gelang es. Was ich tat, erschien ihr in hellstrahlendem Lichte; dafür hatte Burton gewiß gesorgt! Fast ein Held schien ich ihr.
Sie versprach mir, was sie Rogers gab und Ned Lippincott. Das einzige, was sie hatte – sich selbst! Und sie glaubte, daß ich darum für sie arbeitete wie die beiden andern. Es war ein ehrlicher Vertrag – deshalb brauchte sie nicht »Danke« zu sagen noch obendrein.
Natürlich hatte sie recht, zehnmal recht! Nur begriff ich's nicht, verstand damals gar nicht, was sie wollte. Faßte es erst, als sie zu mir kam – ihre Schuld zu bezahlen.
Und da ließ ich sie von mir gehn. Wies sie ab, in kindischer Eitelkeit ...
Oh, ihr blauen, seligen Blicke! Und vermochten doch, damals, nicht die Hornhaut zu schmelzen, in der ich stak!
Erziehung, Tradition der Jahrhunderte –
Ich armseliger Narr! Der sich verletzt fühlte und beleidigt war! Und darum sie nun beleidigte und erniedrigte.
Erbärmliche Wochen folgten. Ich konnte sie nicht vergessen, glaubte immer, daß sie wiederkommen würde. Erwartete ihren Anruf oder ein Schreiben.
Nichts kam. Und ich ging nicht zu ihr, klingelte sie nicht an, schrieb ihr nicht.
Dann reiste ich für die Central-Trust nach Europa. Fünf Monate war ich drüben. Als ich wiederkam, hörte ich, daß sie in »Ziegfeld Follies« aufträte – in der zweiten Reihe, hinter den Ponies. Hörte ihres Leibes Preis singen von Richardson und von Parker, von Backhaus und Fairchilds und Joe Sellmann. Von denen und manchen andern in Wallstreet: Eileen Carter war große Mode geworden.
Sie wollte ihren Weg machen, und sie machte ihn. Mit dem einzigen Kapital, das sie hatte.
Ich traf sie wieder auf Elmer G. Warrens Fest, am Riverside-Drive. Traf sie dann, als sie Klaus Steckeis, des alten Zuckerkönigs, Frau war, unter dem Wetterdach der Oper in Chikago. Und nun, nach zehn langen Jahren – hier in Cannes.
Dreimal traf ich sie – und es war jedesmal dasselbe. Sie starrte mich an, zog mich hin zu sich, ließ mich dann stehn wie einen Fremden. Wann, wann wird sie kommen – Eileen Carter?

Ich fuhr auf – jemand klopfte an die Tür. Ich lauschte, ich hatte mich nicht geirrt: Es klopfte wieder, laut und energisch. Ich ging zur Tür, öffnete: Ein Stubenmädchen stand da, in schwarzem Kleid mit weißer Schürze und Haarschleife. Sie nannte meinen Namen, und ich ließ sie eintreten.
»Was wollen Sie?« fragte ich.
Ihr Gesicht blieb ruhig, doch war ein Lächeln in den verschmitzten Augen. »Ich bin Lady Broughams Kammerjungfer«, sagte sie. »Ich soll Ihnen das abgeben, ehe Sie abreisen.«
Sie legte, in braunes Papier gewickelt, ein kleines Paketchen auf den Tisch.
»Das ist alles?« fragte ich.
»Alles!« nickte sie. Knickste, ging hinaus.
Meine Hände zitterten, als ich das Papier abnahm. Was hatte sie mir zu sagen, Eileen – Lady Brougham?
Ein französisches Buch, wie all die andern mit dem häßlichen gelben Umschlag. Ich schlug es auf: ein Roman von Stendhal. Vielleicht hatte sie etwas hineingeschrieben! Ich wendete die Seiten um: nichts stand da.
Das Buch war aufgeschnitten. Stendhal also las sie, Stendhal, dem die Liebe nichts war als Mathematik. Algebra. Lehre von Gleichungen: a² + b² - 2 bc cos x = c²!
Wie ihr, wie Eileen Carter!
Ich legte das Buch auf den Tisch, sah hinten ein Zeichen stecken. Griff es wieder auf, schlug die Seite auf. Da las ich, an den Rand gekritzelt, die Worte: »Das weiß ich jetzt, daß Sie mich wollten – damals und immer und heute noch!«
Das war alles. Aber zwei Zeilen waren angestrichen am Rande: »Eh, mon dieu, pourquoi ne me l'avez vous pas dit? Vous m'auriez eue comme tous les autres!«
Wie all die andern! Wie Barett S. Rogers und Ned Lippincott, wie Elmer G. Warren und Klaus Steckeis und der Earl von Brougham! Wie die und – alle die andern!
Nie, niemals würde ich das unbekannte X finden, niemals die Gleichung lösen!
Meine Gleichung ...

Nun, denke ich, bin ich endlich fertig mit dieser Frau. Nie wird etwas sein zwischen ihr und mir. Nie wird sie kommen – und wenn die Hölle zufriert, wird Eileen nicht kommen.
Und dennoch träume ich von amethystenen Augen. Träume von Eileen Carter.


6. Kapitel

Aus dem Tagebuch eines Orangenbaumes

»Oh, wie viel Zaub'rer, wie viel Zauberinnen
gibt's unter uns, von denen man nichts weiß!«
Ariosto: Orlando Furioso. Ges. VIII, I.

Wenn ich, verehrter Herr Sanitätsrat, Ihrem Wunsche nachkomme und die Seiten des Heftes, das Sie mir gegeben haben, ausfülle, so wollen Sie mir glauben, daß ich das nach reiflicher Überlegung und mit einer wohldurchdachten Absicht tue. Denn im Grunde genommen handelt es sich doch nur um einen Kampf zwischen uns beiden, Ihnen, dem leitenden Arzt dieser Privat-Irrenanstalt und mir, dem Patienten, der seit drei Tagen hier untergebracht ist. Die Anklage, wegen der ich hier gewaltsam untergebracht bin – entschuldigen Sie einem Studenten der Rechte, daß er mit Vorliebe juristische Phrasen wählt! –, wirft mir vor, daß ich » an der fixen Idee leide, ein Orangenbaum zu sein«. Nun, Herr Sanitätsrat, versuchen Sie den Beweis zu erbringen, daß das eine »Vorspiegelung falscher Tatsachen« sei – gelingt es Ihnen, mich von dieser Ihrer Meinung zu überzeugen, so bin ich ja »geheilt«, nicht wahr? Wenn Sie mir beweisen, daß ich ein Mensch sei wie alle anderen, daß ich lediglich infolge einer Fülle nervenzerrüttender Aufregungen von einer krankhaften Einbildung befallen sei wie viele Tausende von Kranken in allen Sanatorien der Welt, so haben Sie mit diesem Beweise zugleich mich den Lebenden wiedergegeben: Die »Nervenkrankheit« ist dann im Nu von Ihnen weggeblasen.
Auf der anderen Seite habe ich als Angeschuldigter das Recht, den Wahrheitsbeweis anzutreten. Es ist der Zweck dieser Zeilen, Sie, sehr geehrter Herr Sanitätsrat, von der Unanfechtbarkeit meiner Behauptungen zu überzeugen.
Sie sehen, daß ich ganz nüchtern denke, jedes Wort ruhig abwäge. Ich bedaure herzlich die Auftritte, die ich vorgestern machte; es betrübt mich sehr, daß ich durch mein albernes Gebaren den Frieden Ihres Hauses störte. Sie wollen das den vorangegangenen Aufregungen zugute halten, Sie wollen bedenken, daß, wenn man Sie, verehrter Herr Sanitätsrat, oder sonst einen gesunden Menschen plötzlich hinterlistig in ein Irrenhaus brächte, er auch nicht viel anders sich benehmen möchte. Unsere stundenlange Unterredung von gestern abend aber hat mich völlig beruhigt; ich sehe ein, daß meine Verwandten und Korpsbrüder lediglich mein Bestes wollten, als sie mich hierher brachten. Und nicht nur »wollten«; ich glaube, daß es wirklich so das Beste ist. – Denn wenn es mir gelingt, einen Psychiater von europäischem Rufe wie Sie, Herr Sanitätsrat, von der Richtigkeit meiner Aufstellungen zu überzeugen, so muß auch der größte Skeptiker sich vor dem sogenannten » Wunder« beugen.
Sie baten mich, in dies Heft einen möglichst ausführlichen Lebenslauf meiner Person zu schreiben, auch alle meine Gedanken über das, was Sie meine »fixe Idee« nennen. Ich verstehe sehr wohl, wenn Sie das auch nicht aussprachen, daß es sich für Sie, einen pflichttreuen Diener der Wissenschaft, darum handelt, aus dem »Munde des Kranken selbst ein möglichst getreues Krankheitsbild zu erhalten«. – Ich will bis aufs kleinste Ihren Wünschen nachkommen, in der bestimmten Voraussetzung, daß Sie, nachdem Sie Ihren Irrtum erkannt, auch mir bei meiner von Stunde zu Stunde realere Formen annehmenden Baumwerdung hilfreich Hand leisten werden.
Sie werden, Herr Sanitätsrat, beim Durchsehen meiner Papiere, die sich ja zur Zeit in Ihrem Gewahrsam befinden, bei meiner Meinung zu der juristischen Doktorprüfung ein eingehendes curriculum vitae finden, das alle äußeren Einzelheiten enthält. Ich kann mich daher hier sehr kurzfassen; Sie werden aus dem Schriftstück entnehmen, daß ich der Sohn eines rheinischen Industriellen bin, im achtzehnten Jahre mein Abiturientenexamen machte, mein Jahr als Einjähriger in einem Berliner Garderegiment abdiente, auf verschiedenen Universitäten als Student der Rechte meine Jugend genoß, dazwischen eine Reihe größerer und kleinerer Reisen machte und zuletzt in Bonn mich auf die Referendar – und Doktorprüfung vorbereitete.
Das alles hat für Sie, Herr Sanitätsrat, ebensowenig Interesse wie für mich. Die Geschichte, die uns angeht, beginnt erst am 22. Februar vergangenen Jahres. An diesem Tage lernte ich bei einem Faschingsball die auf die Gefahr hin, lächerlich zu scheinen, schreibe ich es nieder – Zauberin kennen, die mich in einen Orangenbaum verwandelte.
Es ist wohl nötig, einige Worte über die Dame zu sagen, der ich bei jenem Feste vorgestellt wurde. Frau Emy Steenhop war eine sehr auffallende Erscheinung, die alle Augen unwiderstehlich auf sich zog. Ich verzichte auf eine Beschreibung ihrer Reize; Sie möchten die Schilderung eines Verliebten vielleicht als starke Übertreibung belächeln. Doch ist es Tatsache, daß unter meinen Freunden und Bekannten nicht einer war, den sie nicht im Augenblick fesselte, der nicht glücklich war für jeden Blick, für jedes Wort, das sie an ihn richtete.
Frau Emy Steenhop bewohnte damals seit etwa zwei Monaten eine geräumige Gartenvilla in der Koblenzer Straße, die sie mit viel Geschmack hatte einrichten lassen. Sie führte ein offenes Haus, in dem allabendlich die Offiziere der Königshusaren und die Mitglieder der angesehensten Korps sich versammelten. Es ist richtig, daß keine Damen bei ihr verkehrten, doch bin ich überzeugt, daß das nur aus dem Grunde geschah, weil Frau Steenhop, wie sie häufig lachend erklärte, Weibergeschwätz für den Tod nicht ausstehen mochte. Ebensowenig verkehrte die Dame jemals in einer Bonner Familie.
Es ist begreiflich, daß der Klatsch der Kleinstadt sich sehr bald mit der auffallenden Fremden beschäftigte, die täglich ihren schneeweißen Mercedeswagen durch die Straßen steuerte. Bald gingen die abenteuerlichsten Gerüchte von Mund zu Mund über nächtliche Orgien in der Koblenzer Straße; das lokale Hetzblättchen brachte gar einen Aufsatz, der »Eine moderne Messalina« überschrieben war und in seinen Anfangsworten – »Quousque tandem« – jedenfalls die höhere Bildung des Schreibers dokumentieren sollte. Ich kann versichern – und bin überzeugt, daß alle die Herren, die jemals die Ehre hatten, von Frau Emy Steenhop empfangen zu werden, das gleiche tun werden –, daß niemals in ihrem Hause auch nur das Allergeringste vorkam, das gegen die strengste gesellschaftliche Form verstieß. Ein Handkuß – das war das einzige, was die Dame ihren Verehrern –, und zwar allen – gestattete; einzig der kleine Husarenoberst hatte das Vorrecht, seinen martialischen Schnurrbart auf den weißen Unterarm drücken zu dürfen. Frau Emy Steenhop hatte uns alle so am Fädchen, daß wir artig wie Pagen in fast ritterlich-romantischer Form unserer Herrin dienten.
Trotzdem geschah es, daß urplötzlich ihr Haus verödete. Ich war zu dem Geburtstage meiner Mutter am 16. Mai nach Hause gefahren; als ich zurückkehrte, hörte ich zu meinem Erstaunen, daß durch einen Befehl des Obersten den Offizieren seines Regiments der weitere Besuch in dem Hause der schönen Frau verboten sei. Die Korps waren sofort diesem Beispiel für ihre Angehörigen gefolgt. Ich fragte nach dem Grunde, meine Korpsbrüder teilten mir mit, daß für ihr Vorgehen lediglich der Regimentsbefehl maßgebend sei; es sei unmöglich, daß in einem vom Husarenregiment gemiedenen Hause Korpsstudenten verkehren könnten. In der Tat hatten in dieser Beziehung von jeher die beiden Korporationen aufeinander Rücksicht genommen, schon aus dem Grunde, weil alljährlich so viele Korpsangehörige bei den Husaren dienten oder dem Regiment als Reserveoffiziere angehörten.
Den Grund des Vorgehens des Obersten kenne man nicht, auch den Offizieren selber sei er unbekannt. Doch vermute man, daß er mit dem urplötzlichen Verschwinden des Leutnants Baron Bohlen zusammenhänge, für das man auch nicht die geringsten Gründe sich zusammenreimen könne.
Da mir Harry von Bohlen persönlich nahestand, so ging ich noch denselben Abend in das Husarenkasino, um vielleicht Einzelheiten zu erfahren. Der Oberst empfing mich sehr liebenswürdig, lud mich zu einem Glase Sekt ein, vermied es aber, auf die Angelegenheit zu sprechen zu kommen. Als ich ihm endlich offen meine Frage stellte, lehnte er höflich, aber sehr kurz ab, sie zu beantworten. Ich sagte:
»Herr Oberst! Ihre Anordnungen und die der Korps sind gewiß für Ihre Offiziere und die Korpsstudenten bindend. Für mich sind sie es nicht. Ich kann heute noch aus meiner Verbindung austreten und bin dann Herr meiner Handlungen.«
»Tun Sie, was Ihnen beliebt!« antwortete der Oberst nachlässig.
»Ich bitte Sie, mich einen Augenblick geduldig anzuhören«, fuhr ich fort. »Jedem andern mag es vielleicht nicht so schwerfallen, das Haus in der Koblenzer Straße zu missen. Er wird manchmal mit leisem Bedauern an die schönen Abende sich erinnern und sie schließlich vergessen. Ich aber ...«
Er unterbrach mich.
»Junger Mann«, rief er, »Sie sind der vierte, der mir diese Rede hält! Zwei meiner Leutnants und einer Ihrer Korpsbrüder waren schon vorgestern bei mir. Ich habe den beiden Leutnants Urlaub erteilt, sie sind bereits abgereist; Ihrem Korpsbruder habe ich denselben Rat erteilt. Auch Ihnen kann ich nichts anderes sagen. – Sie müssen vergessen, hören Sie! – Ein Opfer ist genug!«
»So klären Sie mich wenigstens auf, Herr Oberst!« drängte ich. »Ich weiß ja nichts und kann nirgends etwas erfahren. Steht das Verschwinden Bohlens in einem Zusammenhang mit Ihrem Befehl?«
»Ja!« sagte der Oberst.
»Was ist aus ihm geworden?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete er. »Und ich fürchte, ich werde es niemals wissen.«
»Sagen Sie mir, was Sie wissen!« bat ich, und ich fühlte, daß in meiner Stimme ein Klang zitterte, der ihn zwingen mußte zu antworten. »Um Gottes willen, sagen Sie mir, was ist aus Bohlen geworden, und weshalb erließen Sie den Befehl?«
Er machte sich los und sagte:
»Donnerwetter, mit Ihnen scheint's wirklich noch schlimmer zu stehen als mit den anderen!«
Er schenkte die beiden Kelche voll und schob mir mein Glas hin.
»Trinken Sie, trinken Sie«, rief er.
Ich goß den Champagner hinunter und beugte mich vor.
»Sagen Sie mal«, fuhr er fort und sah mich scharf an, »waren Sie es nicht, der damals die Gedichte vorlas?«
»Ja«, stammelte ich, »aber ...«
Der Oberst strich seinen Schnauzbart.
»Damals beneidete ich Sie fast«, sagte er nachdenklich; »unsere Fee erlaubte Ihnen, ihr zweimal die Hand zu küssen. – Waren es Ihre eigenen Gedichte? Es kam so was von allen möglichen Blumen drin vor.«
»Ja, ich habe die Gedichte selbst gemacht«, erwiderte ich.
»Es war ein schrecklicher Unsinn!« sagte er wie zu sich selbst. »Entschuldigen Sie«, fuhr er lauter fort, »ich verstehe von Gedichten gar nichts, durchaus gar nichts. Möglich, daß sie auch sehr schön waren. Die Fee fand das ja.«
»Aber, Herr Oberst«, warf ich ein, »was sollen denn jetzt diese Gedichte? Sie wollten ...«
»Ich wollte Ihnen was anderes erzählen, gewiß«, unterbrach er mich. »Aber gerade wegen der Gedichte tue ich das. Man sagt, daß die Leute, die Gedichte machen, alle Träumer seien. – Ich glaube, der arme Kerl, der Bohlen, machte auch insgeheim Gedichte.«
»Was ist also mit Bohlen?« drängte ich.
Er überhörte den Einwurf.
»Und die Träumer«, spann er seinen Gedankengang weiter, »die Träumer, das sind augenscheinlich die, die sie am leichtesten fängt. – Ich will Sie warnen, Herr, so gut ich es vermag.« Er richtete sich auf.
»Hören Sie also!« sagte er sehr ernst. »Heute vor sieben Tagen kam Leutnant Bohlen nicht zum Dienst. Ich schickte in seine Wohnung, er war verschwunden. Wir haben mit Hilfe der Polizei, der Staatsanwaltschaft alle Schritte getan, ohne jeden Erfolg. Und trotz der kurzen Zeit, die inzwischen verflossen ist, bin ich für meine Person von der Fruchtlosigkeit aller weiteren Bemühungen überzeugt. Äußere Gründe sind nicht vorhanden. Bohlen war vermögend, hatte keine Schulden, war gesund und sehr glücklich in seinem Beruf als Reiteroffizier. Hinterlassen hat er nichts als ein kurzes Schreiben an mich – dessen Inhalt ich Ihnen in seinen Einzelheiten nicht mitteilen kann.«
Mich faßte eine grenzenlose Enttäuschung, die mein Gesicht sofort verriet.
»Warten Sie!« sprach der Oberst weiter. »Ich hoffe, daß das, was ich Ihnen sage, genügen wird, Sie wenigstens zu retten. Ich glaube, daß Leutnant Bohlen tot ist, daß er sich in geistiger Umnachtung das Leben genommen hat.«
»Schreibt er das?« warf ich ein.
Der Oberst schüttelte den Kopf.
»Nein!« sagte er. »Kein Wort! Er schreibt nur: Ich verschwinde nun. Ich bin kein Mensch mehr. Ich bin ein Myrtenbaum.«
»Was?« rief ich.
»Ja«, sagte der Oberst, »ein Myrtenbaum! Er glaubt, daß er von der Zauberin – von Frau Emy Steenhop in einen Myrtenbaum verwandelt worden sei.«
»Aber das sind ja dumme Träumereien!« rief ich. Der Oberst richtete wieder seinen forschenden, mitleidigen Blick auf mich.
»Träumereien?« wiederholte er. »Sie nennen es Träumereien. Man kann es auch Wahnsinn nennen. Aber das ist gewiß: Unser armer Kamerad ist daran zugrunde gegangen. Er glaubte sich verzaubert. Waren wir denn nicht alle ein wenig von der schönen Frau verhext? Bin ich alter Esel nicht wie ein Schulbub um sie herumgeschwänzelt? Ich sage Ihnen, daß mich jeden Abend eine maßlose Sehnsucht überfällt, zu ihrer Villa zu gehen, um meinen grauen Schnauzbart auf ihre weiche Haut zu pressen. Und ich sehe es meinen Offizieren an, daß es ihnen nicht anders geht. Der Oberleutnant Graf Arco, den ich vorgestern auf Urlaub sandte, hat mir gestanden, daß er fünf Stunden lang im Mondschein vor ihrem Hause auf und ab gelaufen sei, und ich fürchte; er ist nicht der einzige gewesen. Ich kämpfe mit meinem Galgenhumor meine geheimen Wünsche herunter, bleibe jede Nacht als letzter im Kasino und gebe ein – gutes Beispiel. Ich versichere Sie, so viel Champagner wie in dieser Woche ist bei uns seit Jahren nicht getrunken worden – aber geschmeckt hat er keinem. – Trinken Sie, trinken Sie! Bacchus ist der Feind der Venus.«
Er goß wieder die Gläser voll und fuhr fort:
»Nun sehen Sie, junger Herr, wenn ein so prosaischer Kerl wie ich das Jucken nicht loswerden kann, wenn ein so blasierter Weiberheld wie Arco einsame Mondscheinpromenaden macht, mußte ich da nicht befürchten, daß der Fall Bohlen nicht der einzige bleiben würde? – Und ich danke dafür, mein Offizierskorps in einen Myrtenwald verwandelt zu sehen!«
»Ich danke Ihnen, Herr Oberst!« sagte ich. »Sie haben von Ihrem Standpunkt aus zweifellos richtig gehandelt.«
Er lächelte.
»Sehr liebenswürdig von Ihnen, das anzuerkennen!« spottete er. »Aber Sie würden mich mehr verbinden, wenn Sie meinen Rat befolgen würden. Ich war nun einmal der älteste, gewissermaßen der Führer bei dem Hexenkult in der Koblenzer Straße; nun ist es mir, als ob ich für alle, nicht nur für meine Offiziere, verantwortlich sei. Und ich habe das Gefühl – nichts als ein Gefühl, aber ich kann es nicht loswerden –, als ob noch mehr Unheil von jener schönen Frau ausgehen würde. Nennen Sie mich einen alten Toren, einen Narren, aber versprechen Sie mir, nie wieder jenes Haus zu betreten!« Er sprach so ernst, so eindringlich, daß auch mich plötzlich eine seltsame Angst faßte.
»Ja, Herr Oberst!« sagte ich.
»Das beste ist, Sie verreisen auf ein paar Monate, wie es die anderen getan haben. Arco ist mit Ihrem Korpsbruder zusammen nach Paris gefahren, gehen Sie doch auch dahin! Das wird Sie zerstreuen; Sie werden die Zauberin vergessen.«
Ich erwiderte: »Ja, Herr Oberst!«
»Ihre Hand darauf!« rief er.
Ich streckte ihm die Rechte hin, die er kräftig schüttelte.
»Ich werde sogleich meine Sachen packen und den Mitternachtzug nehmen«, sagte ich fest.
»Recht so!« rief er und schrieb ein paar Worte auf seine Visitenkarte. »Hier der Name des Hotels, in dem Arco und Ihr Freund abgestiegen sind; grüßen Sie beide von mir, amüsieren Sie sich, lumpen Sie meinetwegen ein bißchen, aber kommen Sie mir wieder – ohne dieses – trübsinnige Lächeln!«
Er strich mit seinem Zeigefinger über meine Mundwinkel, als ob er sie glätten wolle.
Ich lief sofort nach Hause, in der festen Absicht, in drei Stunden abzureisen. Meine Koffer standen noch gepackt da, ich nahm einige Sachen heraus und tat andere hinein. Dann setzte ich mich an den Schreibtisch und schrieb meinem Vater einen kurzen Brief, in dem ich ihm von meiner Reise Mitteilung machte und ihn bat, mir nach Paris Geld zu senden. Als ich nach einem Umschlag suchte, fiel mein Blick auf ein paar Briefe und Karten, die während meiner Abwesenheit angekommen waren. Ich dachte: Die können liegenbleiben, bis ich von Paris zurück bin. Dann streckte ich doch die Hand aus – und zog sie wieder zurück. »Nein, ich will sie nicht lesen«, sagte ich. Ich nahm eine Münze aus der Tasche und dachte: Ist der Kopf oben, liest du sie. Ich warf das Geldstück auf den Tisch, das Wappen fiel nach oben. – »Also gut«, sagte ich, »ich lese sie nicht.« In demselben Augenblick ärgerte ich mich über diese Dummheiten und griff nach den Briefen. Ein paar Rechnungen, Einladungen, Geschäftsempfehlungen – dann ein violetter Umschlag, der in großen, steilen Buchstaben meinen Namen trug. Ich wußte sogleich: Das war es, warum ich die Briefe nicht anschauen wollte. Ich wog den Brief prüfend in der Hand, aber ich fühlte wohl, daß ich ihn lesen mußte. Ich hatte nie die Schrift gesehen, und ich wußte doch, daß es die ihre war. Plötzlich sagte ich halblaut:
» Jetzt fängt es an.«
Ich dachte mir nichts dabei, ich hatte keine Ahnung, was ich jetzt anfangen sollte. Aber ich fürchtete mich. Ich zerriß den Umschlag und las:
»Mein Freund! Vergessen Sie nicht, die Orangenblüten heute abend zu bringen.
Emy Steenhop.«
Der Brief war vor zehn Tagen geschrieben, an dem Tage, als ich nach Hause gefahren war. Ich hatte am Abend vorher ihr erzählt, daß ich in dem Treibhaus eines Gärtners blühende Orangenbäume gesehen hätte, und sie hatte darauf den Wunsch ausgesprochen, Blüten zu haben. Gleich am anderen Morgen, vor meiner Abreise, war ich zu dem Gärtner gegangen und hatte ihn beauftragt, ihr die Blüten zu senden.
Ich las die Zeilen ganz ruhig, dann steckte ich den Brief in die Tasche. Ich zerriß den Brief an meinen Vater.
Mit keinem Gedanken dachte ich mehr an das Versprechen, das ich dem Obersten gab.
Ich sah auf meine Uhr – halb zehn; das war die Zeit, zu der sie ihren Hofstaat zu empfangen pflegte. Ich ließ einen Wagen holen und zog mich um.
Ich fuhr zu dem Gärtner und ließ mir Blüten abschneiden. Und dann, endlich, war ich vor ihrer Villa.
Ich ließ mich melden, und das Mädchen führte mich in den kleinen Saal. Ich setzte mich auf den Diwan und streichelte das weiche Guanakofell, das darüber lag.
Dann kam sie herein, in einem langen, gelbseidenen Teekleid. Die schwarzen Haare fielen von dem glatten Scheitel über die Ohren, drehten sich dort zu leichten Krönchen, so wie sie Lucas Cranachs Frauen tragen. Sie war ein wenig bleich, ein violetter Schimmer leuchtete aus ihren Augen.
Das ist, weil sie Gelb trägt, dachte ich.
»Ich war verreist«, sagte ich, »zu dem Geburtstag meiner Mutter. Ich bin erst heute abend vor einigen Stunden zurückgekommen.«
Sie stutzte einen Augenblick.
»Erst heute abend?« fragte sie. »So wissen Sie nicht –« Sie unterbrach sich: »Aber natürlich wissen Sie!« lächelte sie. »In den paar Stunden hat man Ihnen längst alles erzählt!«
Ich schwieg und drehte meine Blüten.
»Natürlich hat man!« fuhr sie fort. »Und Sie haben doch den Weg hierhergefunden? Ich danke Ihnen.«
Sie streckte mir die Hand hin, die ich küßte.
Da sagte sie ganz leise: »Ich wußte ja, daß Sie kommen würden.«
Ich richtete mich auf.
»Gnädige Frau!« sagte ich. »Ich fand bei meiner Rückkehr Ihren Brief vor. Ich habe mich beeilt, Ihnen die Blüten zu bringen.«
Sie lächelte.
»Lügen Sie doch nicht!« rief sie, »Sie wissen, daß ich vor zehn Tagen schon den Brief schrieb. Und sie sandten mir ja auch gleich die Blüten.«
Sie nahm die Zweige aus meiner Hand und führte sie zum Gesicht.
»Orangenblüten – Orangenblüten«, sagte sie langsam, »wie herrlich sie duften!«
Sie sah mich fest an und fuhr fort:
»Sie brauchten keinen Vorwand, um hierherzukommen. – Sie kamen, weil Sie mußten, nicht wahr?«
Ich verbeugte mich.
»Setzen Sie sich, mein Freund«, sagte Frau Emy Steenhop, »wir wollen Tee trinken!«
Dann klingelte sie.
Glauben Sie mir, Herr Sanitätsrat! Ich könnte jeden der vielen Abende, die ich mit der Dame verbrachte, Ihnen eingehend erzählen, Wort für Wort jede unserer Unterhaltungen wiedergeben. Wie in Erz ist das alles in mein Gedächtnis eingemeißelt, ich würde nicht eine Handbewegung, nicht das leichte Spiel ihrer Augenbrauen vergessen. – Ich will Einzelheiten herausgreifen, die für das Bild, das Sie von mir wünschen, wesentlich scheinen.
Einmal sagte Frau Emy Steenhop:
»Wissen Sie, was aus Harry Bohlen geworden ist?«
Ich erwiderte: »Ich weiß, was die Leute sagen.«
Sie fragte: »Glauben Sie, daß ich ihn in einen Myrtenbaum verwandelt habe?«
Ich ergriff ihre Hand, um sie zu küssen:
»Wenn Sie das wünschen, schöne Frau«, lachte ich, »will ich es gern glauben.«
Aber sie entzog mir die Hand. Sie sprach – und aus ihrer Stimme klang eine solche Gewißheit, daß ich zitterte: » Ich glaube es!«
Sie hatte den Wunsch ausgesprochen, daß ich ihr jeden Abend Orangenblüten bringen möchte. Als ich ihr eines Abends wieder die weißen Blüten überreichte, flüsterte sie:
»Astolf.«
Dann fuhr sie lauter fort:
»Ja, ich werde Sie Astolf nennen. Und wenn Sie wollen, mögen Sie Alcina zu mir sagen.«
– Ich weiß, verehrter Herr Sanitätsrat, wie wenig Muße unsere Zeit hat, sich mit alten Sagen und Geschichten zu beschäftigen. So werden Ihnen voraussichtlich diese beiden Namen gar nichts sagen, während sie mir das nahe Bevorstehen eines entsetzlichen und doch süßen Wunders im Augenblick offenbarten. Wenn Sie Ariost kennen würden oder sonst eine Heldengeschichte des Cinquecento gelesen hätten, so würde Ihnen die schöne Fee Alcina wie mir eine alte Bekannte sein. Sie fing Astolf von Engelland in ihren Netzen, den gewaltigen Rüdiger, den Haimons-Sohn Reinold von Montalban, den Bayardritter und viele andere Helden und Paladine. Und sie pflegte ihre Geliebten, wenn sie ihrer überdrüssig war, in Bäume zu verwandeln ...
Sie legte mir beide Hände auf die Schultern und sah mich an:
»Wenn ich Alcina wäre«, sagte sie, »möchtest du ihr Astolf sein?«
Ich sprach nichts, aber meine Augen antworteten ihr. Und dann sagte sie:
»Komm!«

Sie sind Psychiater, Herr Sanitätsrat, und ich weiß, wie anerkannt Sie sind. Ich habe Ihren Namen oft gelesen, man sagt Ihnen nach, daß Sie durchaus neue Gedanken entwickelt hätten. Und weil ich nun glaube, daß nie ein Mensch allein sogenannte neue Gedanken hat, sondern daß diese zu gleicher Zeit in den verschiedensten Hirnen in Erscheinung treten, so habe ich eine Hoffnung, daß Ihre neuen Gedanken in bezug auf die menschliche Psyche sich vielleicht mit den meinen decken könnten. Eben dies Gefühl läßt mich Ihnen gegenüber ein so unbegrenztes Vertrauen fassen.
Der Gedanke, nicht wahr, das ist das Primäre, ja, das ist das einzige, das wirklich ist. Es ist ein knabenhafter Unfug, die Materie als etwas Wirkliches aufzufassen. Das, was ich sehe, fasse und greife, kann ich schon vermöge der unvollkommensten Hilfsmittel als ganz etwas anderes erkennen, als ich es mit meinen paar Sinnen auffasse. Ein Wassertropfen scheint meinen erbärmlichen Menschenaugen eine kleine, klare, durchsichtige Kugel; ein Mikroskop zwar, wie es die Kinder als Spielzeug benutzen, lehrt mich, daß er ein Tummelplatz der wildesten Infusorienschlachten ist. Das ist eine höhere Einsicht – aber nicht die höchste; denn zweifellos wird man in hundert Jahren selbst über unsere glänzendsten wissenschaftlichen Hilfsmittel ebenso lächeln, wie wir es über die Instrumente Äskulaps tun. Es ist also die Erkenntnis, die ich den wunderbarsten Hilfsmitteln verdanke, ebensowenig wirklich wie die meiner armseligen Sinne. Wenn ich auch die Materie fassen mag, sie ist immer anders als ich sie begreife. Aber ich kann nicht nur das Wesen der Materie niemals völlig erkennen, sondern sie hat überhaupt kein Sein. Spritze ich den Wassertropfen gegen den heißen Ofen, so ist er im Augenblick verdampft, werfe ich ein Stück Zucker in den Tee, schmilzt er. Zerschlage ich dann die Schale, aus der ich trinke, so habe ich Scherben, aber keine Tasse mehr. Wenn aber ein Sein im Handumdrehen in ein Nichtsein verwandelt werden kann, so lohnt es sich nicht, es überhaupt als ein Sein anzusprechen. Das Nichtsein, der Tod, ist für alle Materie das eigentliche Wesen, das Leben ist nur eine Vereinigung dieses Wesens für eine unendlich kleine Zeitspanne. – Der Gedanke aber des Wassertropfens, des Stückchens Zucker bleibt unvergänglich, er kann nie zerbrechen, verdampfen, zerschmelzen. Ist dieser Gedanke also nicht mit viel größerem Rechte als Wirklichkeit anzusprechen als die flüchtige Materie?
Nun sind wir Menschen, Herr Sanitätsrat, ebensosehr Materie wie alles um uns; jeder Chemiker kann uns mit Leichtigkeit nachweisen, aus wieviel Prozenten Sauerstoff, Stickstoff, Wasserstoff wir bestehen. Wenn aber in uns der Gedanke sich offenbart – welches Recht haben wir, anzunehmen, daß er sich in anderen Materien nicht offenbaren sollte?
Ich gebrauche stets das Wort »Gedanken«, Herr Sanitätsrat, nur aus dem Grunde, weil dieses Wort mir persönlich für den Begriff, den ich im Sinne habe, am besten liegt. Wie die verschiedenen Sprachen für einen Begriff die verschiedensten Worte haben, wie der Italiener das Ding, mit dem wir sprechen, »bocca« nennt, während der Engländer »mouth«, der Franzose »bouche«, der Deutsche »Mund« sagt, so haben auch die verschiedenen Wissenschaften und Künste für denselben Begriff die verschiedensten Worte. Was ich »Gedanke« nenne, möchte der Theosoph mit »Gott« bezeichnen, der Mystiker mit »See«, der Arzt mit »Bewußtsein«; Sie, Herr Sanitätsrat, würden vielleicht das Wort »Psyche« wählen. Aber Sie werden mit mir darin übereinstimmen, daß dieser Begriff, wie man ihn auch nennen möge, das Ursprüngliche und zugleich einzig Wirkliche ist.
Wenn nun dieser losgelöste Begriff, der alle die Eigenschaften hat, die die Theologen dem sogenannten persönlichen Gott beilegen, der also unendlich, ewig, unbegrenzt ist, in unserm Hirn sich offenbart, warum sollte es ihm nicht freistehen, ebensogut in allen anderen Dingen in Erscheinung zu treten? Ich kann mir wenigstens angenehmere Wohnplätze denken als die Hirne so mancher Menschen.
Das alles ist durchaus nichts Neues; haben doch Milliarden von Menschen zu allen Zeiten daran geglaubt – oder glauben heute noch daran –, daß die Seele sich auch in Tieren zeigt. Die Lehre Buddhas, zum Beispiel, hat ja die Theorie der Seelenwanderung aufgenommen. Was hindert uns, einen Schritt weiterzugehen und Quellen, Bäumen, Felsen Seelen beizulegen, wie man es – vielleicht nur aus poetisch-ästhetischen Gründen – in Hellas tat? Ja, ich glaube, daß die Zeit gekommen ist, die den menschlichen Verstand so weit entwickelt hat, daß er fähig ist, die Seelen von manchen organischen Wesen zu erkennen.
Ich sprach Ihnen von meinen Gedichten, die ich einmal der Dame vorgelesen habe und die der Oberst so schrecklichen Unsinn nannte. Das mögen sie sein – ich habe kein Urteil darüber. Es ist auch weiter nichts als ein stammelnder Versuch, in menschlicher Sprache die Seelen einiger Blumen wiederzugeben.
Woher kommt es, daß ein Eukalyptusbaum den Gedanken an nackte, sich sehnend ausbreitende Frauenarme erweckt? Daß Asphodelos uns unwillkürlich an den Tod mahnt? Daß die Glycene uns das Bild eines blonden Pfarrerstöchterleins vorzaubert, die Orchidee aber uns an Hexensabbat und schwarze Messen erinnert?
Deshalb – weil der Gedanke daran in diesen Blumen und Bäumen lebt.
Glauben Sie, daß es Zufall ist, daß bei allen Völkern der Welt die Rose als das Symbol der Liebe, das Veilchen als das der Bescheidenheit gilt? Es gibt Hunderte von kleinen duftigen Blumen, die ebenso versteckt und verborgen blühen wie das Veilchen, keine von ihnen allen übt auf uns eine ähnliche Wirkung aus. Brechen wir aber ein Veilchen, so denken wir instinktiv: Bescheidenheit. Dabei geht dieses seltsame Gefühl nicht einmal von dem für unsere Sinne Charakteristischsten der kleinen Blume aus, das heißt von ihrem Duft. Nehmen Sie das Parfüm »Vera Violetta«, dessen Geruch so täuschend ist, daß Sie im Dunkeln ihn von dem Dufte eines großen Veilchenstraußes nicht zu unterscheiden vermögen, so werden Sie niemals dieselbe Empfindung haben.
Ebenso hat das Gefühl, das uns in der Nähe eines blühenden Kastanienbaums gegen unseren Willen erfaßt, der Gedanke der ewig siegenden Männlichkeit, auch nicht das geringste mit dem zu tun, was unsere Sinne zuerst fesselt: dem mächtigen Stamm, den breiten Blättern, den tausend leuchtenden Blütenkerzen. Erst durch Überlegung kommen wir zu der Erkenntnis, daß es hier der kaum bemerkbare Duft ist, der uns den Gedanken, die Seele des Baumes, offenbart.
Augenscheinlich kann der Begriff, den ich »Gedanken« nenne, alle Formen und Gestalten annehmen; die Tatsache allein, daß ich oder ein anderer das denken kann, ist schon ein vollgültiger Beweis dafür.
Denn da der Gedanke überhaupt keine Grenzen kennt, so ist die Materie für ihn nicht die geringste Schranke. Kein einsichtiger Mensch kann sich heute den Wahrheiten – die freilich relativ sind wie alle anderen – der monistischen Weltauffassung entziehen, und die lehrt uns, daß wir Menschen als Materie uns in nichts von jeder anderen Materie unterscheiden. Wenn ich das zugeben muß, und auf der anderen Seite des »Gedankens« Sein – in seinem eigentlichen gewaltigen Sinne – mich in jedem Augenblicke zur Anerkennung zwingt, so kann ich nur zu dem einen Schluß kommen, den übrigens tausend Beispiele bestätigen, daß der »Gedanke« nicht nur den Menschen, sondern auch jede andere Materie beliebig zu durchdringen vermag, warum also nicht Stamm, Blätter und Blüten eines Orangenbaumes?
Für die Faust-Natur des Philosophen besteht die Glaubenslehre, die die Kulturvölker angenommen haben, nur in ihren Anfangsworten: »Im Anfang war das Wort.« Und sie stocken alle und werden nie über das geheimnisvolle »Logos« hinauskommen, bis es sich eines Tages in einem Kopfe in seiner ganzen Größe selbst offenbart. Denn da das menschliche Hirn von aller Materie auf dem toten Sternchen, das wir Erde nennen, nun einmal das Vollkommenste ist, so wird für uns diese Offenbarung wohl dort zu Erscheinung werden.
Aber das ist das Falsche, daß alle die Menschen, die, wie die Mystiker, an eine solche Offenbarung des »Logos« glaubten und sich mit ihr beschäftigten, stets annahmen, daß sie plötzlich, wie ein Blitz, käme. Sie wird kommen, wie sie kam, langsam, Schrittchen für Schrittchen, wie sich die Sonne aus dem Nebelfleck, wie sich der Mensch aus der Amoeba primitiva entwickelte. Sie ist unendlich und nie vollendet, darum wird sie auch nie vollkommen sein.
Es vergeht keine Stunde, keine Sekunde, in der der Gedanke sich nicht offenbart, größer, herrlicher als vorher. Immer, immer mehr erkennen wir diesen Begriff, der alles ist.
Und eine solche größere Erkenntnis ist es, von der ich glaube, daß sie in meinem Hirn sich gespiegelt hat. Oh, ich bilde mir nicht ein, der einzige zu sein; ich glaube, daß nie ein Gedanke ein Hirn allein befruchtet. Aber in wenigen nur mag er Blüten treiben.
Eines Nachts hatte die Frau, die ich Alcina nannte, das Lager, auf dem wir ruhten, ganz mit Orangenzweigen bedeckt. Wenn sie mich umschlang, zitterten die feinen Nasenflügel, die sie eng an meinen Hals preßte.
»Mein Freund«, sagte sie, »du duftest wie die Blüten!«
Ich lachte und glaubte, daß sie scherze. – Aber ich habe mich später überzeugt, daß sie recht hatte.

Meine Hauswirtin kam früh in mein Zimmer. Sie schnupperte in der Luft herum und sagte:
»Oh, wie gut das riecht! Haben Sie wieder Orangenzweige da?«
Aber ich hatte seit Tagen keine Blüten in meinem Zimmer gehabt.
Ich sagte mir: Beide können sich täuschen, die menschliche Nase ist ein so schlecht entwickeltes Organ.
Aber mein Jagdhund wird sich nicht täuschen lassen: Seine Nase ist unfehlbar.
So machte ich einen Versuch. Ich ließ meinen Hund in Wohnung und Garten oft einen Orangenzweig apportieren; ich versteckte ihn dann sorgfältig, lehrte ihn, ihn zu bringen, wenn ich rief: »Such die Blüten!« Stets brachte er den Zweig nach kurzer Zeit aus dem verstecktesten Platz zurück.
Ich wartete dann einige Tage, während der ich keine Blüten in meiner Wohnung hatte. Eines Morgens nahm ich das Tier mit in die Schwimmanstalt. Als ich aus dem Wasser stieg, rief ich:
»Ali! Apport! Such die Blüten!«
Der Jagdhund hob den Kopf hoch, schnupperte ein paarmal in der Luft herum und kam dann ohne Bedenken auf mich zu. Ich ging in meine Badezelle und wies ihm die Kleider, aber der Jagdhund beroch sie kaum, er beschnupperte mich immer wieder: Es war mein Fleisch, an dem er den Duft roch.
Nun, Herr Sanitätsrat, wenn das dem Hund mit seinem hochentwickelten Geruch passierte, brauchen Sie sich nicht zu wundern, wenn Sie denselben Irrtum hegten, als Sie bei mir Zweige vermuteten. Ich hörte, wie Sie, nachdem Sie mich gestern abend verließen, dem Diener auf dem Gange sagten, er möge, wenn ich im Garten spazierenginge, sorgfältig mein Zimmer durchsuchen und die Orangenzweige entfernen. Ich nehme Ihnen das nicht übel; Sie glaubten, ich habe solche Blüten bei mir versteckt, und hielten es für Ihre Pflicht, alles das fernzuhalten, was mich an »meine fixe Idee« erinnere. Herr Sanitätsrat, Sie hätten Ihrem Diener die Mühe sparen können: Er kann stundenlang täglich suchen und wird nicht eine kleine Blüte finden. Aber wenn Sie wieder mich besuchen, so werden Sie wieder den Duft riechen, der von meinem Fleische ausgeht.
Einmal träumte mir, ich ging durch einen weiten Garten zur Mittagszeit. An dem runden Springbrunnen vorbei, durch eine Pergola mit zerbrochenen Marmorsäulen. Und über lange, glatte Rasenflächen. Ich sah einen Baum, der funkelte über und über von glutroten Blutorangen. Da wußte ich, daß ich dieser Baum war.
Der leichte Wind spielte in meinen Blättern, und in unendlicher Lust dehnte ich mich und streckte meine vollen Äste. Über den weißen Kiesweg kam eine Frau gegangen, in weitem gelbem Gewande. Aus tief violetten Augen streichelten mich ihre Blicke.
Da rauschte ich aus den dichten Zweigen:
»Brich dir von meinen Früchten, Alcina!«
Sie verstand diese Sprache und hob den weißen Arm. Brach einen Zweig ab mit fünf, sechs goldenen Früchten.
Das war ein leiser, süßer Schmerz; ich erwachte davon. Ich sah sie neben mir kauern, auf dem weichen gelbweißen Felle. So seltsam starrten ihre Augen mich an.
»Was tust du?« fragte ich.
»Still!« flüsterte sie. »Ich lausche deinen Träumen.«

An einem Nachmittag waren wir über den Rhein gefahren, vom Drachenfels hinab zum Kloster Heisterbach gegangen. Hinter den efeuumrankten Ruinen hatte sie sich aufs Gras geworfen. Ich saß neben ihr, sog in vollen Zügen die linde Luft ein, hob die Brust und streckte weit die Arme aus.
»Ja«, sagte sie und deckte die Augen mit den tiefen Wimpern, »ja, breite deine Zweige aus! Wie kühl ruht sich's in deinem Schatten!«
Dann erzählte sie ...
Oh, Nächte hindurch erzählte sie mir. Uralte Sagen, Märchen und Geschichten. Immer schloß sie die Augen dabei. Wenig nur öffneten sich ihre feinen Lippen, wie ein Klingen von silbernen Glöckchen tropften ihr die Worte vom Munde:
»›Du raubtest meinen Gürtel‹ sagte Flordelis zu ihrem Ritter; ›so bring mir einen anderen, der meiner wert ist!‹
Da sattelte der blonde Gryph sein Roß und jagte durch alle Lande der Welt, um seiner Herrin einen Gürtel zu schaffen. Schlug sich mit Riesen und Rittern, mit Hexen und Zauberern und erkämpfte die herrlichsten Gürtel. Aber in den Staub warf er sie, oder Bettlern in den Schoß, und rief, daß es armselige Lappen seien und nicht wert, seiner Dame Lenden zu schmücken. Und als er der Venus eigenen Gürtel dem gewaltigen Rodomont abgerungen, riß er ihn in Fetzen und schwur, daß er einen Gürtel ihr schaffen wolle, wie ihn nie eine Göttin getragen. Den Zauberer Atlas erschlug er und raubte sein Flügelroß: Durch Sturm und Wind ritt er in die Luft und riß mit kecker Hand die Milchstraße herab vom Himmel.
Zu der Herrin kam er zurück und küßte ihren weißen Fuß. Um ihre Hüften schlang er den Gürtel, auf dem als Geschmeide viel tausend Sterne funkelten ...«

»Lies mir das vor, was du über die Orchideen schriebst!« sagte sie.
Da las ich ihr:
»Als der Teufel ein Weib ward,
Als sich Lilith
Die schwarzen Haare zum schweren Knoten schlang
Und die bleichen Züge
Mit Botticellis krausen Gedanken
Rings umrahmte,
Als sie leise lächelnd
Um alle die schmalen Finger
Goldreifen zog mit bunten Steinen,
Als sie Villiers las
Und Huysmans liebte,
Als sie Maeterlincks Schweigen verstand
Und die Seele badete
In Gabriel d'Annunzios Farben,
Lachte sie einmal ...
– –
Und wie sie lachte,
Sprang ihr die kleine Fürstin der Schlangen
Heraus aus dem Mund,
Da schlug die schönste der Teufelinnen
Nach der Schlange,
Schlug die Königin der Schlangen
Mit beringtem Finger,
Daß sie sich wand und zischte,
Zischte, zischte
Und Geifer spritzte.
Aber Lilith sammelte die Tropfen
In der schweren Kupfervase;
Feuchte Erde,
Schwarze, feuchte Erde
Streute sie darauf.
Leichthin kosten ihre großen Hände
Rund herum
Diese schwere Kupfervase,
Leichthin sangen ihre bleichen Lippen
Ihren alten Fluch ...
Wie ein Kinderreim erklang ihr Fluchen,
Weich und müde ...
Müde wie die Küsse,
Die vom Munde
Ihr die feuchte Erde trank.
Aber Leben hob sich in der Vase,
Und gelockt von ihren müden Küssen,
Und gelockt von diesen süßen Klängen,
Krochen langsam aus der schwarzen Erde
Orchideen ...
– –
Wenn die Liebste
Vor dem Spiegel ihre bleichen Züge
Rings umrahmt von Botticellis Nattern,
Kriechen seitwärts aus der Kupfervase
Orchideen ...
Teufelsblumen, die die alte Erde,
Die durch Liliths Fluch mit Schlangengeifer
Sich vermählt, zum Lichte hat geboren,
Orchideen ...
Teufelsblumen.«
»Das ist schön«, sagte Alcina.

Ja, Herr Sanitätsrat, so war unser Leben: ein Märchen, aus Sonnenstrahlen gewoben. Eine verlorene Vergangenheit atmeten wir ein; eine nie geahnte Zukunft wuchs aus unseren Küssen.
Und immer klarer, o kristallklar wurden die Harmonien unserer Träume. Einmal unterbrach sie mich mitten in einem Liede.
Sie sagte: – »Schweige!« und preßte ihr Gesicht eng an meine Brust. Ich fühlte, wie die feinen Nüstern auf meinem Fleische zitterten – minutenlang.
Dann hob sie den Kopf und sagte:
»Du brauchst nicht zu sprechen; es duften deine Gedanken.«
Sie schloß die Augen – und langsam sprach sie meine Verse zu Ende ...
Oder sie nahm meinen Kopf eng in ihren Arm, berührte die Schläfen mit den schmalen Fingern.
Dann fühlte ich, wie ihre Wünsche in mich hinüberglitten, schmeichelnd Besitz nahmen von meiner Seele.
Wie eine süße Musik spielte es durch meine Schläfen, wie ein Sang von tanzenden Sonnenstrahlen:
Wo die grünen Flächen sich dehnen, wo über schneeige Marmorschwellen kühle Bergwasser springen, wo sich große Falter zwischen Magnolienblüten wiegen und weiße Pfauen einsame Träume sinnen, da steht ein Baum.
Weit streckt er ringsum seine-Äste aus, und ein Duften von Hochzeit und Liebe erfüllt um ihn die Luft. Weiße Blüten heben sich aus den Blättern, und dazwischen funkeln die goldenen Früchte.
Eine Fee aber ruht in dem kühlen Schatten, sie erzählt Märchen dem Baume, der ihr der Geliebte ist.
Sie spricht, und er rauscht in den Winden ihr seinen Duft zu.
So plaudern die beiden.
Es wuchs in mir die Erkenntnis, langsam, allmählich, wie alle Offenbarung. So harmonisch, daß ich nicht einen einzigen Markstein bezeichnen könnte. Die paar Einzelheiten, die ich Ihnen wiedergegeben habe, Herr Sanitätsrat, habe ich aus Tausenden herausgegriffen. Das Wunder begann, als ich zum ersten Male diese Frau sah – aber vielleicht begann es weit früher. Muß ich nicht meine Gedanken, die zum Beispiel, die ich in den Gedichten zum Ausdruck brachte, schon als einen ersten leisen Anfang ansprechen?
Vollendet aber wird das Wunder sein, wenn ich da draußen in der Sonne stehe, weiße Blüten und goldene Früchte trage.
Dazwischen die Entwicklung: ruhig fortschreitend, stark selbstbewußt, ohne einen Widerstand zu kennen. Nicht nur der Seele, auch des Leibes. Sagte ich Ihnen nicht schon, daß all mein Fleisch mit dem süßen Duft getränkt sei? – Überzeugen Sie sich doch, Herr Sanitätsrat!

Dann kamen die letzten Nächte. Einmal sagte sie mir:
»Nun muß ich dich bald lassen.«
Da erschrak ich nicht. Jede Sekunde bei ihr war eine Ewigkeit, noch durften meine glücklichen Arme sie umfangen.
Ich nickte, dann fuhr sie fort:
»Du weißt, was dann kommen wird, Astolf?«
Ich nickte wieder und fragte:
»Wohin wirst du gehen?«
Da fielen zwei Tränen über ihre Wangen. Sie richtete sich auf, und ihr Auge leuchtete wie ein einsames Nachtgestirn auf vereister Steppe.
»Übers Meer«, sagte sie, »dahin, woher ich kam. – Aber ich will dir schreiben. – Und dann, später, wenn du draußen blühst, wenn die leichten Winde in deinen Zweigen spielen, dann, später, komme ich wieder. Komme zu dir, Liebster, und ruhe in deinem Schatten. Ruhe bei dir, Liebster, und träume mit dir unsere süßesten Träume.«
»Liebster«, sagte sie, »Liebster!« Und wie um Stamm und Zweige sich des Efeus grüne Ranken schmiegen, so umschlang sie mich – so.

Was dann kam, wissen Sie, Herr Sanitätsrat. Als ich eines Abends zu ihrer Villa kam, schellte ich vergebens. Sie war fort, ihre Villa geräumt. Ich setzte alles in Bewegung, rannte tagelang wie ein Narr umher. Ich machte lächerliche Torenstreiche, aber ich versichere Sie, Herr Sanitätsrat, daß das alles nur auf die Rechnung des Verliebten zu setzen ist, dem seine Schöne plötzlich wie mit einem Zauberschlag entrückt war.
Meine Korpsbrüder kümmerten sich wieder um mich, mehr als mir lieb war. Sie waren es, die meinen Eltern telegrafierten. Dann kam der Wutausbruch, das, was Sie die »Katastrophe« nennen, und was doch eine so leichterklärliche Selbstverständlichkeit war. Meine Freunde, die nach meinen Torheiten mich keinen Augenblick mehr allein ließen, hatten bemerkt, daß ich stets auf den Briefträger lauerte. Und als der Brief kam, ihr Brief, nahmen sie ihn auf der Straße dem Boten ab. Heute weiß ich sehr wohl, daß sie eine gute Absicht leitete, daß sie eine neue Aufregung mir fernhalten wollten. Aber in dem Augenblick, als ich das vom Fenster aus sah, wurde mir rot vor den Augen; eine Entweihung schien es mir, daß sie mit ihren Händen das Papier berührten, daß ihre Augen die Schrift lesen wollten, die sie geschrieben. Ich riß den scharf geschliffenen Schläger von der Wand und eilte auf die Straße. Ich rief ihnen zu, mir den Brief herauszugeben; als sie das weigerten, schlug ich dem, der ihn hielt, mit der Waffe ins Gesicht. Das Blut spritzte, befleckte den Brief, den ich ihm entriß. Ich sprang auf mein Zimmer, verriegelte mich und las die Zeilen.
Sie schrieb:
»Wenn du mich liebst, so bringst du es zu Ende. – Oh, ich werde kommen, zu dir kommen, Liebster! Werde ruhen in deinem kühlen Schatten und dir süße Sagen erzählen.
Alcina.«
Nun bin ich fertig, Herr Sanitätsrat. Mit List brachte man mich hierher, aber jetzt danke ich dem Schicksal, das mich hierhin führte. Die Aufregungen sind vorüber, in dieser wunderbaren Ruhe habe ich meinen Frieden wiedergefunden. Ich sitze in dem süßen Dufte, der von mir ausgeht, und fühle, weiß, daß ich es zu Ende bringe. Schon wird mir das Schreiben schwer, Herr Sanitätsrat, die Finger wollen nicht mehr zusammenhalten, sie spreizen sich, streben auseinander wie die Zweige.
Ihre Anstalt liegt in einem weiten Parke; ich bin heute morgen darin gewandelt, er ist so groß und schön. Ich weiß, Herr Sanitätsrat, meine Worte haben Sie überzeugt, oh, sie haben es getan! Wenn also die Stunde kommt, die so nahe ist, so versuchen Sie nicht, die Erfüllung zu hemmen. Dort hinter der großen Wiese werde ich stehen, wo die Kaskaden plätschern. Ich weiß, Sie werden mich pflegen lassen, Herr Sanitätsrat, der Gärtner vom Bonner Talweg versteht sich ja auf Orangenbäume, er wird Ihnen Anweisungen geben. Denn ich will ja nicht verkümmern, ich will wachsen und blühen, damit sie sich freue an meiner Pracht.
Sie wird schreiben, Herr Sanitätsrat, Sie weiden von ihr hören ...
Und noch eins: In jedem Sommer, wenn meine Krone funkelt von tausend goldenen Früchten, dann wollen Sie die schönsten brechen und in ein Körbchen legen. Das senden Sie ihr.
Ein Zettelchen aber soll man hineintun mit den süßen Worten, die ich nächtens einmal auf den Straßen Granadas hörte:
»Liebste, nimm die Blutorange,
Die ich still im Garten brach.
Liebste, nimm die Blutorange!
Doch nicht schneid sie mit dem Messer,
Denn du wirst mein Herz zerschneiden
Mitten in der Blutorange!«